Luegenherz
vor, als wäre ich in einem warmen Whirlpool. Ich sauge die Luft tief ein, endlich Luft, die nach Wald und Sommerregen duftet, und vergesse für einen Moment die Schmerzen in meinem Körper.
Als Jury auch endlich draußen angekommen ist, krieche ich zu ihm. Seine Augen sind weit offen. »Wie geht’s dir?«, frage ich.
»Spitze«, sagt er, »definitiv spitze.« Dann verdreht er die Augen und verliert das Bewusstsein.
»Wir müssen sofort zum oberen Höhleneingang, dort wartet Tom und ganz sicher ist die Bergrettung auch schon bei ihm«, sage ich zu Mila und Landgraf.
»Tom? Warum ist Tom eigentlich hier?«
»Ist doch jetzt egal«, mischt sich Landgraf ein, »los, los, Beeilung.«
Die beiden holen den Liefercombi von Milas Mutter und hieven Jury und mich auf die Ladefläche, dann fährt Landgraf los. Und das Nächste, an das ich mich erinnere, sind die vielen Blinklichter der Rettungswagen und Toms besorgtes Gesicht über meinem.
31. Ally
Vier Wochen später
Mit blutenden, löchrigen Füßen gehe ich über einen schmalen Pfad aus Pfeilspitzen, der über einen tiefen Abgrund führt, hin zu Jury, der dort mitten auf dem Weg am Bauch aufgespießt ist, und dessen Hände und Füße wie geisterhafte Tentakeln über dem Abgrund baumeln. Ich will schneller hin zu ihm, aber meine Beine sind bleischwer und machen jeden Schritt zur Qual. Nur noch wenige Zentimeter. Da erhebt sich Jury und ist plötzlich Mila, die mich triumphierend angrinst und wie eine Aufziehpuppe mechanisch »Verzeih mir, verzeih mir, verzeih mir« wispert und dabei immer näher kommt. Dann rammt sie mir ihre Fäuste in den Bauch und ich stürze in den Abgrund. Falle und falle und falle.
Ich schrecke hoch, schweißgebadet, mit jagendem Puls und unerträglichem Druck auf der Brust. Diesen Traum habe ich ständig. Nichts Neues also, Ally, beruhige ich mich, nur böse Fantasien der Nacht. Ich stehe auf, humple die Treppen runter zum Kühlschrank und gieße mir Mineralwasser ein. Die Wunde im Oberschenkel hat sich durch Fledermauskot und Höhlenschlamm infiziert und übel entzündet, deshalb musste viel Fleisch weggeschnitten werden. Trotzdem werde ich wieder normal laufen können, aber die Narbe wird mich immer daran erinnern, denn sie ist groß und wulstig.
Mama hat darauf bestanden, dass Jury und ich zu Hause wohnen, damit sie uns pflegen kann. Sie war entsetzt über das, was passiert ist, und so wütend, dass sie Landgraf verklagt und ihm die Presse auf den Hals gehetzt hat. Das hat unsere Eltern dann so beschäftigt, dass Jury und ich sie nur selten an unserem Krankenlager gesehen haben. Aber dafür waren wir umgeben von zwei Privatkrankenschwestern und einem Heer von Physio- und Ergotherapeuten, Masseuren und Traumapsychotherapeuten.
So haben Jury und ich zum ersten Mal seit Langem wieder viel Zeit miteinander verbracht. Allerdings streiten wir uns nur. Wegen Mila, immer wegen Mila. Ihr Vater hat alle Schuld auf sich genommen, hat behauptet, er hätte die Ausrüstung nicht sorgfältig genug überprüft, den Wetterbericht aus Geldgier ignoriert, sodass sie aus allem fein raus ist. Und ihr ganzes Verzeih-mir-Gequatsche in der Höhle war garantiert nur ihrer Angst geschuldet. Von mir aus soll Jury darauf reinfallen, aber ich lasse mich nicht mehr benutzen, von niemandem.
Sie hat ihn mit ihren Anrufen, Mails und Blumensträußen eingewickelt. Jeden zweiten Tag kam ein frischer für Jury und einer für mich. Zuerst habe ich meine sofort in den Müll geworfen, aber dann habe ich gemerkt, dass die Krankenschwestern die Blumen mochten, also habe ich sie ihnen geschenkt. Jury hat seine Sträuße im Zimmer behalten, wo es aussieht wie in einem blauen Salon. Glockenblumen, Enzian, Anemonen und blaue Mauritius, sogar blaue Rosen waren dabei. Und irgendwann hat Mila mir sogar einen Brief geschrieben, den ich aber nicht angenommen habe.
Ich humple die Treppen wieder hoch und bilde mir ein, Stimmen aus Jurys Zimmer zu hören. Redet er mit der Nachtschwester? Er kann noch immer nicht aufstehen, nicht mal, um zur Toilette zu gehen, weil sein Hüft- und Oberschenkelbruch so kompliziert ist und schlecht verheilt. Trotzdem findet er, ich sollte Mila verzeihen. Ich wäre lächerlich unversöhnlich.
Jury lacht laut und ich verdrehe die Augen – die Schwestern fressen ihm alle aus der Hand. Aber dann höre ich die andere Stimme. Und es ist nicht eine der Krankenschwestern.
Es ist Mila.
Was hat sie hier nachts zu suchen?
Gänsehaut kriecht über meinen Rücken,
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