Luegenherz
gut, mit diesen Brüchen muss er stabiler liegen.«
»Dann ziehen du und ich unsere Schlaze aus«, schlage ich vor, »und polstern das Netz damit aus.«
Mila zieht ein nasses Handtuch aus ihrem T-Shirt. »Ich könnte noch das hier beisteuern.«
Sie vermeidet es, ihren Vater anzusehen, und sie machen sich wortlos daran, alle Seile auf den Boden zu schütten, dann fangen sie zu knoten an. Ich versuche zu helfen, so gut ich kann. Und jedes leise Stöhnen von Jury macht meine vor Kälte tauben Hände schneller.
»Immerhin sind das keine elastischen Seile«, meint Landgraf nach einer Weile, »wie Bergsteiger sie verwenden, sondern statische, die nicht nachgeben. Da liegt dein Bruder wenigstens einigermaßen sicher. So, das wär’s.« Landgraf stopft die Schlaze in das Netz. »Mila, hilf mir mit Jury, bei drei heben wir ihn in die Trage. Du nimmst die Füße, ich den Oberkörper.«
Bei drei packen die beiden zu und Jury schreit so fürchterlich, dass ich zusammenzucke, als hätte mich jemand getreten. Dann machen wir uns alle vier zum See auf.
39. Mila
Als Jury angefangen hat, so entsetzlich zu schreien, wäre ich am liebsten tot umgefallen. Er hat erst aufgehört, als er im Wasser war, dann habe ich ihn losgelassen und bin zurück zu Ally, die am Ufer auf mich gewartet hat. Jury wehrt sich, will nicht von Landgraf unter Wasser gedrückt werden, versteht nicht, wozu das nötig ist. Ally schnaubt laut, als sie sieht, wie Landgraf ihn ohrfeigt und dann doch unter Wasser drückt.
»Wenn Jury das nicht überlebt, Mila«, zischt Ally mir zu, dann wirst du Hel ganz persönlich kennenlernen.«
Die beiden verschwinden unter der eiskalten Wasseroberfläche und tauchen durch das Gewölbe. Der See liegt sofort wieder glatt und ruhig da, als hätte er die beiden für immer verschlungen.
»Mila, hörst du mich, wenn Jury das nicht überlebt …« Allys Stimme bricht ab, ihr Gesicht ist unnatürlich weiß und glänzend wie gefrorenes Wasser. Seitdem sie den Schlaz ausgezogen hat, zittert sie nur noch, obwohl Papa ihr seinen Fleecepullover umgehängt hat.
Ich warte darauf, dass Landgraf zurückkommt.
Warum dauert das denn so lange? Ich würde Ally gern wärmen, aber ich bin mir sicher, dass sie das abstoßend findet, nach allem, was ich getan habe.
Endlich taucht Landgraf auf und gibt mir das Okay-Zeichen. Ally stützt sich auf mich und wir humpeln gemeinsam in das so trügerisch karibisch aussehende Wasser und tauchen dann gemeinsam durch den schmalen Spalt nach drüben. Die Kälte legt sich wie eine eiserne Klammer um meine Brust. So schnell es geht, wate ich mit Ally auf der anderen Seite wieder zum Rand des Sees. Ich kann kaum atmen. Allys Augen stehen weit offen, ihre Pupillen sind riesig und sie grinst so merkwürdig, während sie immer heftiger zittert. Sie stolpert zu Jury und legt sich halb auf ihn drauf.
»Jury«, flüstert sie, »hey, Jury, mach jetzt bloß nicht schlapp, wir wollten am Wochenende doch zusammen ins Kino gehen. Sie zeigen den alten Charlie-Chaplin-Film, den wir immer so gern angeschaut haben.« Sie umklammert seinen Oberkörper, Tränen laufen ihr übers Gesicht.
»Weiter, wir müssen weiter«, drängelt Landgraf.
Ich gehe voraus und trage Jurys Füße, Papa die andere Seite. Jury hat sich die Faust in den Mund gesteckt, um nicht laut zu schreien. Jetzt müssen wir noch durch den Gewölbegang und dann den Schluf nach draußen fahren. Zum Glück geht es bergab, so können wir Jury in dieser Ersatztrage einfach nach unten befördern. Aber weil keiner von uns mehr einen Schlaz trägt, schneiden die spitzen Steine des Minicanyons überall ein und es fühlt sich an, als würde man über einen Nagelteppich rutschen. Niemals mehr werde ich mich ritzen. Ich verspreche mir selbst, wenn wir es heil rausschaffen, dann wird alles anders. Mit jedem Zentimeter, den wir zurücklegen, sage ich mir: Anders, Mila, alles wird anders.
Es rinnt mehr Wasser durch den Gang als auf dem Hinweg, und das macht es noch schlimmer, weil man überhaupt keinen Halt hat.
Wir arbeiten uns durch den Schluf wie Tiere auf der Flucht vor ihrem Metzger, nichts reden, nichts denken, nur raus, raus, raus.
40. Ally
Es wird heller und heller. Die letzten Zentimeter bewege ich mich wie ferngesteuert, spüre nichts mehr, will nur hin zum Licht, mich in Sicherheit wissen.
Draußen falle ich ins Gras, so weich, oh Mann, ist das weich und hell, so hell. Es schüttet zwar immer noch, aber nach der Kälte in der Höhle kommt es mir so
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