Luegnerin
Angst, dass er mich dann gleich zu den Oldies verfrachtet. Ohne das Schuljahr zu beenden, ohne College. Nur die Farm für den Rest meines Lebens.
So zu tun, als wäre ich krank, ist mein Kompromiss. Ich will eine Entschuldigung für mein Fehlen in der Schule haben. Vielleicht kann ich lange genug eine ernste Krankheit vortäuschen, um nicht wieder in die Schule zu müssen und das Schuljahr dennoch zu beenden.
»Dad«, sage ich matt, besorgt, dass ich es vielleicht übertreibe. Es ist schwer, eine normale Krankheit vorzutäuschen, wenn man kaum jemals eine Erkältung oder Grippe gehabt hat. Nur die Familienkrankheit. »Ich bin echt krank.«
Er legt mir eine Hand auf die Stirn. »Du fühlst dich wirklich ein bisschen heiß an. Hast du Halsschmerzen?«
Ich nicke. Mein Hals fühlt sich an, als wäre er voller Rasierklingen, aber nicht so, wie er denkt.
»Gib mir deine Hand.«
Ich reiche sie ihm.
»Kalt! Und feucht. Das kann nicht gut sein. Vielleicht sollte ich dich zum Arzt bringen?«
Ich schaue ihn an. Dad weiß, was ich von Ärzten halte. Von denen hat es in meinem Leben schon viel zu viele gegeben.
»Okay, also kein Arzt. Aber wenn es dir immer noch so geht, wenn Mom nach Hause kommt, dann muss es vielleicht sein. Ich hole dir erst mal Wasser. Was willst du frühstücken? Ist Rührei okay?«
Ich nicke. Manchmal bin ich froh, dass er zu Hause arbeitet.
Er steht auf. »Hast du deine Pille genommen?«
Ich stöhne nicht, sondern nicke nur matt. Sobald er die Tür hinter sich schließt, ziehe ich mir die Decke über den Kopf, schließe die Augen und schlafe ein.
Manchmal kann ich sehr ruhig sein.
VORHER
»Warum hat du diese Lüge erzählt, dass du als Missgeburt auf die Welt gekommen bist?«, fragte mich Zach, und sein Mund kitzelte mich am Ohr.
Wir waren bei ihm zu Hause und lagen zusammengekuschelt
auf seinem Bett. Seine Eltern waren zu Verwandten verreist. Das Fenster stand weit offen und wir konnten den Verkehrslärm sieben Stockwerke unter uns hören. Manchmal sogar Gesprächsfetzen von Leuten, die unten vorbeigingen. In unserer Wohnung hörte ich die Leute dauernd reden, aber ich dachte mir, dass es daran lag, dass wir nur im vierten Stock wohnen. Sieben Stockwerke sollten eigentlich etwas mehr Ruhe bringen. Vor allem hier in Inwood, wo viel weniger Verkehr war als downtown.
»Komm schon, Micah, warum hast du so gelogen?«
»War keine Lüge«, erklärte ich ihm und drehte mich dabei so, dass unsere Gesichter nur ein paar Zentimeter voneinander entfernt waren. »Ich war eine Missgeburt.« Ich war versucht, ihm die Geschichte mit den Haaren zu erzählen. Ich war kurz davor, ihm die Wahrheit zu sagen.
Zach stützte sich auf den Ellenbogen und schaute mich direkt an. Seine Augenbrauen regungslos. Sein Mund ganz still, so als fände er es nicht gut, wollte es sich aber nicht anmerken lassen.
Ich stützte mich ebenfalls auf. »Meine Eltern geben es nicht gerne zu, dass ich komisch geboren wurde. Sie sind die Lügner, nicht ich.«
»Also wurdest du teils als Junge und teils als Mädchen geboren?« Er starrte mich an und versuchte, meinen Gesichtsausdruck zu ergründen. »Du weißt, dass das total abartig ist, oder? Wenn ich dir das glauben würde, dann könnte ich nie …«
»Wirklich?«, fragte ich schockiert. »Würde es etwas daran ändern, was du für mich empfindest?«
Ich weiß nicht, warum ich überrascht war. Ich bin mein
ganzes Leben lang mit der Überzeugung aufgewachsen, dass es zu Katastrophen führt, wenn man den Leuten die Wahrheit sagt. Und es ist mir auch schon passiert. Ich habe die Wahrheit gesagt und dann zugesehen, wie alle ausgerastet sind.
»Willst du mich verarschen?«, fragte Zach und rutschte ein Stück von mir weg. »Ist ja schlimm genug, dass du eine Lügnerin bist, da ist es wirklich nicht nötig, dass du auch noch total verdreht bist da unten.« Er schauderte.
»Na gut«, sagte ich. »Glaub einfach, was du glauben willst.«
»Ich glaube, dass du verdreht bist. Aber nicht so . Ich mag dich. Aber ich wünschte, du würdest mich nicht anlügen. Das musst du nicht. Du kannst mir wahre Geschichten erzählen. Oder du kannst mir gar nichts erzählen. Aber ich mag es nicht, wenn du lügst.«
»Du willst also, dass ich dir etwas Wahres erzähle? Okay, und das hab ich noch keinem sonst erzählt.« Hatte ich wirklich nicht. Ich spürte, wie ich den Atem anhielt und mich darauf vorbereitete, es loszuwerden. Aber Zach lachte.
»Was du noch keinem sonst erzählt hast, ja?
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