Luegnerin
dass sie durchs bloße Hingucken in ebensolche abgedrehten Wesen verwandelt werden könnten, wie ich es bin.
»Wie war sein Geisteszustand, als du ihn zuletzt gesehen hast?«, fragt Rodriguez.
Geisteszustand? Am liebsten würde ich ihn nachäffen, aber immerhin ist er ein Polizist, der glaubt, ich könnte Zach ermordet haben. »Er war müde. Erschöpft. Aber er wirkte glücklich. Ich hab nicht gedacht, dass es das letzte Mal sein könnte, dass ich ihn sah.« Ich muss mich konzentrieren, um meine Stimme ruhig zu halten. Ich kann ja nicht vor denen losheulen.
»War es denn das letzte Mal?«
»Ja«, sage ich. »Hab ich ja schon gesagt.«
»Wir haben aber eine Aussage einer anderen Schülerin, die sagt, du hättest ihn Samstagnacht ganz spät noch gesehen oder vielmehr am frühen Sonntagmorgen.«
Sarah. Wer sonst? Warum hatte ich ihr nur diese Geschichte vorgelogen? Weil ich wollte, dass sie sich schlecht fühlte und glauben sollte, ich wäre die Letzte gewesen, die ihn geküsst hatte, nicht sie.
»Nein. Sie können Mom und Dad fragen. Ich war den ganzen Samstag hier. Und Sonntag auch.«
Rodriguez wendet sich an Dad.
»Ja«, sagt Dad. Mom nickt. »Micah hatte an dem Wochenende Hausarrest.«
»Warum?«, fragt Rodriguez.
Dad zögert. Mom und Dad schauen sich an. »Nein«, sagt meine Mom. »Das möchten wir lieber nicht sagen.«
Ich habe Hausarrest gekriegt, weil sie mich dabei erwischt haben, wie ich Zach geküsst habe. Eine der vielen Regeln, die für mich gelten, ist: Kein Freund bis nach der Highschool. Für Jordan wird es keine derartigen Regeln geben; er hat ja nicht die Familienkrankheit.
»Das ist eine private Angelegenheit. Geht nur die Familie was an«, sagt Mom.
Stein und Rodriguez wirken nicht gerade überzeugt oder beeindruckt. »Wir können das Gespräch auch auf der Wache fortführen. Klingt, als müssten wir sie vielleicht alle drei vernehmen.«
»Na gut«, sagt Dad. »Micah hat mir Geld aus dem Portemonnaie geklaut und mich dann angelogen, als ich sie danach gefragt habe.«
Na toll, denke ich, jetzt lügt Dad und behauptet, ich lüge und sei eine Diebin. Das wird mir echt helfen. Mom bedenkt ihn mit einem eiskalten Blick. »Isaiah«, murmelt sie.
»Woher wissen Sie, dass sie es war?«
»Ich hab sie beobachtet«, sagt Dad. »Wir wollten dann mal abwarten, was sie sagt, wenn wir ihr sagen, dass das Geld verschwunden ist.«
»Sie räumen also beide ein, dass Ihre Tochter eine Lügnerin ist?«
Tja, in die Falle sind sie getappt.
»Manchmal«, sagt Dad leichthin. »Ist das nicht bei den meisten Kindern so? Wir versuchen, es ihr auszutreiben. Daher der Hausarrest.«
»Und, hast du uns heute die Wahrheit gesagt, Micah?«, fragt Stein.
»Ja, Sir«, sage ich. »Das habe ich.«
»Wenn wir nämlich rauskriegen, dass du gelogen hast, dann wird das weit schlimmere Konsequenzen haben als Hausarrest am Wochenende. Hast du verstanden?«
Ich nicke. »Ja, verstanden.«
Rodriguez hustet. »Ich vermute, wir sprechen uns wieder«, sagt er. »In der Zwischenzeit: Falls dir noch was einfällt – und wenn es nur eine Kleinigkeit ist –, dann lass es uns wissen.« Rodriguez beugt sich vor, um mir seine Karte zu geben. Ich lege sie auf den Tisch und starre sie an. Vielleicht verdächtigen sie mich ja doch nicht?
Stein steht auf und stößt sich den Kopf an Dads Fahrrad. Er flucht.
Dad schaut nach unten und Mom beißt sich auf die Lippe. Rodriguez lächelt kurz. Ich bin die Einzige, die sich kein Lachen verkneifen muss.
NACHHER
»Ich bin krank«, erkläre ich meinem Vater, der in mein Zimmer geschlüpft ist, um zu sehen, warum ich noch nicht aufgestanden bin. Ich habe ein Eispack in den Händen
gehalten und mein Gesicht überhitzt, indem ich es zu nahe an die Heizung gehalten habe. Laken und Wolldecke habe ich bis zum Kinn hochgezogen. Ich bin heiß und kalt und verschwitzt.
Ich halte die Schule einfach nicht aus. Ich wette, alle wissen, dass die Bullerei hier war. Die Gerüchte über mich und Zach und das, was ich mit ihm gemacht habe, geraten außer Kontrolle. Heute halte ich das Getuschel nicht aus.
»Meine Süße«, sagt Dad und setzt sich aufs Bett. »Ich weiß, dass das alles ein Schock für dich war. Du brauchst eine Auszeit. Fahr raus auf die Farm.«
Am liebsten würde ich ihm erzählen, wie schlimm es in der Schule ist, und ihn anbetteln, dass ich das Schuljahr von zu Hause aus beenden kann. Dann könnte ich in meinem Zimmer bleiben und meine Schulaufgaben hinschicken. Aber ich habe
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