Lullaby (DE)
Brust baumelt, und sagt: »Er sagt, der soll mich beschützen.« Der Kristall macht einen dunklen feuchten Fleck auf ihre orangefarbene Bluse.
»Ach, und bevor Sie gehen«, sagt Helen, »holen Sie mir Bill oder Emily Burrows ans Telefon.«
Helen drückt wieder auf die Haltetaste und sagt: »Entschuldigen Sie.« Sie sagt, es gebe hier zwei eindeutige Möglichkeiten. Der neue Besitzer könne ausziehen, einfach einen Zessionsvertrag unterschreiben, und schon habe die Bank das Haus am Hals.
»Oder«, sagt unsere Heldin, »Sie übertragen das Recht, Ihr Haus zu verkaufen, exklusiv auf mich, natürlich vertraulich. Das wäre dann eine Westentaschenausschreibung, wie wir das nennen.«
Und vielleicht sagt der neue Besitzer dieses Mal Nein. Aber wenn erst einmal diese abscheuliche Fratze im Badewasser zwischen seinen Beinen erschienen ist, wenn die Schatten an den Wänden zu wandern beginnen, tja, dann sagen sie schließlich alle Ja.
Am Telefon sagt der neue Besitzer: »Und Sie verraten den anderen Käufern nichts von dem Problem?«
Und Helen sagt: »Packen Sie gar nicht erst alles aus. Wir erzählen den Leuten einfach, dass Sie gerade ausziehen.«
Falls jemand fragt, sagen Sie, man habe Sie in eine andere Stadt versetzt. Sagen Sie, Sie hätten dieses Haus geliebt.
Sie sagt: »Alles andere bleibt unser kleines Geheimnis.«
Aus dem Vorzimmer sagt Mona: »Ich habe Bill Burrows auf Leitung zwei.«
Und der Polizeifunk sagt: »Roger?«
Unsere Heldin drückt auf den nächsten Knopf und sagt: »Bill?«
Sie flüstert Mona das Wort Kaffee zu. Sie dreht ruckartig den Kopf zum Fenster und flüstert: »Gehen Sie.«
Der Polizeifunk sagt: »Alles Roger?«
Das war Helen Hoover Boyle. Unsere Heldin. Inzwischen tot, aber nicht tot. Irgendein Tag aus ihrem Leben. Es war das Leben, das sie führte, bevor dann ich auftauchte. Vielleicht ist das eine Liebesgeschichte, vielleicht auch nicht. Hängt davon ab, wie sehr ich mir selbst glauben kann.
Es geht hier um Helen Hoover Boyle. Wie sie mich verfolgte. Ähnlich wie einem ein Song nicht aus dem Kopf gehen will. Wie man sich das Leben ausmalt. Wie man sich von allem faszinieren lässt. Wie die Vergangenheit einen in jeden Tag der Zukunft begleitet.
Dies ist. Das ist. Es ist alles zusammen, Helen Hoover Boyle.
Wir alle sind Jäger und Gejagte.
An diesem, dem letzten gewöhnlichen Tag ihres normalen Lebens, sagt unsere Heldin ins Telefon: »Bill Burrows?«
Sie sagt: »Holen Sie bitte Emily an den Nebenapparat, denn ich habe soeben nämlich das ideale Haus für Sie beide gefunden.«
Sie schreibt das Wort »Pferd« und sagt: »Wie ich höre, sind die Verkäufer sehr angeregt.«
1
Das Dumme an jeder Geschichte ist, dass man sie erst hinterher erzählt.
Selbst ein ausführlicher Bericht im Radio, in dem die Homeruns und Strikeouts alle geschildert werden, selbst das kommt mit einigen Minuten Verzögerung. Selbst eine Live-Reportage im Fernsehen kommt mit ein paar Sekunden Verspätung.
Selbst Schall und Licht sind nicht schneller, als sie sind.
Ein weiteres Problem ist der Erzähler. Das Wer, Was, Wo, Wann und Warum des Berichterstatters. Die Verzerrung durch das Medium. Wie der Bote die Fakten formt. Was Journalisten den »Gatekeeper« nennen. Darstellung ist alles.
Die Geschichte hinter der Geschichte.
Wo ich dies erzähle: in dem einen oder dem anderen Café. Wo ich, Kapitel für Kapitel, dieses Buch schreibe: in allen möglichen Klein- und Großstädten und Käffern am Arsch der Welt.
Gemeinsam ist allen diesen Orten, dass dort Wunder geschehen. Man liest davon in den Schundgazetten: Heilungen und Erscheinungen, Wunder, von denen die seriöse Presse nie etwas berichtet.
Diese Woche ist es die Heilige Jungfrau von Welburn, New Mexico. Vorige Woche ist sie dort über die Hauptstraße geschwebt. Die langen roten und schwarzen Dreadlocks hinter ihr herflatternd, barfuß und schmutzig, trug sie einen in zwei Brauntönen bedruckten Indianerrock und ein rückenfreies Jeanstop. Das alles steht im World Miracles Report, der in jedem amerikanischen Supermarkt gleich neben der Kasse zu finden ist.
Und hier wäre ich also, eine Woche zu spät. Immer einen Schritt hinterher. Post festum.
Die Fliegende Jungfrau hatte rosa lackierte Fingernägel mit weißen Spitzen, von einigen Zeugen als Französische Maniküre bezeichnet. Die Fliegende Jungfrau hatte eine Dose Insektenspray bei sich und schrieb damit an den blauen Himmel von New Mexico:
Kriegt keine Kinder mehr
(Sic)
Dann
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