Lullaby (DE)
Fensterrahmen. Ob es ein Wohnhaus oder ein Krankenhaus ist, kann man nicht erkennen. Kleine Backsteinmauern und kleine Türen. Auf dem Küchentisch ausgebreitet, könnten es Teile einer Schule oder einer Kirche sein. Ohne die Abbildung auf der Schachtel und ohne die Bauanleitung könnten die winzigen Regenrinnen und Dachfenster zu einem Bahnhof oder einer Irrenanstalt gehören. Fabrik oder Gefängnis.
Egal wie man das zusammenbaut, man kann sich nie sicher sein, ob es richtig ist.
Die kleinen Teile, die Kuppeln und Schornsteine, sie zucken im Rhythmus des Lärms, der durch den Fußboden dringt.
Musiksüchtige. Phobiker der Ruhe.
Niemand will zugeben, dass wir musiksüchtig sind. Das sei einfach nicht möglich. Niemand ist süchtig nach Musik, Fernsehen und Radio. Wir brauchen einfach immer nur mehr davon, mehr Kanäle, einen größeren Bildschirm, mehr Lautstärke. Ohne das können wir das Dasein nicht ertragen, aber nein, süchtig ist niemand.
Wir könnten das jederzeit abstellen.
Ich füge einen Fensterrahmen in eine Mauer. Mit einem kleinen Pinsel von der Größe, wie man sie zum Lackieren der Fingernägel verwendet, trage ich Leim auf. Das Fenster ist so groß wie ein Fingernagel. Der Leim riecht wie Haarspray. Der Geruch schmeckt wie Orangen und Benzin.
Das Muster der Steine in der Mauer ist so fein wie ein Fingerabdruck.
Ein weiteres Fenster fügt sich ein, und auch dieses wird eingepinselt.
Der Schall schaudert durch die Wände, durch den Tisch, durch den Fensterrahmen in meinen Finger.
Ablenkungssüchtige. Phobiker der Konzentration.
Der gute alte George Orwell hat das falsch verstanden.
Big Brother beobachtet nicht. Er haut auf die Pauke. Er zaubert Kaninchen aus dem Hut. Big Brother ist beschäftigt, von früh bis spät deine Aufmerksamkeit zu fesseln. Er sorgt dafür, dass du ständig abgelenkt bist. Er sorgt dafür, dass du immer ganz in Anspruch genommen bist.
Er sorgt dafür, dass deine Phantasie vertrocknet. Bis sie nur noch so nützlich ist wie dein Blinddarm. Er sorgt dafür, dass deine Aufmerksamkeit ständig verkleistert ist.
Und gefüttert werden ist schlimmer als beobachtet werden. Wenn man dauernd von der Welt zugekleistert wird, braucht niemand sich Sorgen zu machen, was in seinem Kopf vorgeht. Wenn jedermanns Phantasie verkümmert ist, kann niemand für die Welt eine Bedrohung darstellen.
Ich fummle einen Knopf an meinem weißen Hemd auf und stopfe die Krawatte hinein. Den Krawattenknoten mit dem Kinn an die Brust geklemmt, setze ich mit einer Pinzette in jedes Fenster eine winzige Glasscheibe ein. Mit einer Rasierklinge schneide ich Plastikvorhänge zu, kleiner als Briefmarken, blaue Vorhänge für oben, gelbe für unten. Einige Vorhänge bleiben offen, andere sind zugezogen, und so leime ich sie fest.
Es gibt Schlimmeres, als Frau und Kind tot aufzufinden.
Du kannst der Welt dabei zusehen. Du kannst deine Frau alt und überdrüssig werden sehen. Du kannst deine Kinder alles entdecken sehen, vor dem du sie hast bewahren wollen. Drogen, Scheidung, Anpassung, Krankheit. All die netten sauberen Bücher, Musik, Fernsehen. Ablenkung.
Diesen Leuten mit dem toten Kind möchtest du sagen: Macht schon. Gebt euch selbst die Schuld daran.
Man kann Menschen, die man liebt, Schlimmeres antun, als sie zu töten. Die übliche Methode ist, die Welt das tun zu lassen und ihr dabei zuzusehen. Man braucht nur die Zeitung zu lesen.
Musik und Lachen fressen an deinen Gedanken. Der Lärm löscht sie aus. Alle diese Töne lenken ab. Der Leim macht dir Kopfschmerzen.
Niemand hat noch seinen eigenen Kopf. Man kann sich nicht konzentrieren. Man kann nicht denken. Immer drängt sich irgendein Geräusch dazwischen. Grölende Sänger. Lachende Tote. Weinende Schauspieler. Alle diese kleinen Dosen Gefühl.
Dauernd sprüht irgendwer seine Stimmung in die Luft.
Mit ihrem Autoradio senden sie ihre Trauer oder Freude oder Wut in die ganze Gegend hinaus.
Ein Wohnhaus im holländischen Kolonialstil: Da hatte ich sechsundfünfzig Fenster verkehrt herum eingesetzt und musste es wegwerfen. Ein Tudorschloss mit zwölf Schlafzimmern: Da hatte ich die Fallrohre an die falschen Giebelwände geklebt und dann alles versaut, als ich es mit einem chemischen Lösungsmittel zu reparieren versuchte.
Das ist nichts Neues.
Kenner altgriechischer Kultur sagen, dass die Menschen damals ihre Gedanken nicht als ihr Eigentum betrachtet haben. Wenn den alten Griechen ein Gedanke kam, glaubten sie, ein Gott oder eine Göttin
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