Lola Bensky
1 Lola Bensky saß auf einem unbequem hohen Hocker. Sie spürte, wie die Nylonfäden der Netzstrumpfhose in ihre Schenkel schnitten.
An der Innenseite ihrer Schenkel hatte sie ein Papiertaschentuch unter das Netzgewebe geschoben. Es sollte verhindern, dass sie aneinanderrieben und die Haut wundgescheuert wurde, aber jetzt war es zerrissen, und in kleinen, rosig schimmernden, prallen quadratischen Päckchen quoll das Fleisch durch die Maschen.
Sie versuchte, eine bequemere Position zu finden. Sie saß nicht gerne auf Hockern. Und sie mochte keine Höhen. Auf dem Fußboden unter ihrem linken Fuß bemerkte sie ein paar Papierflöckchen. Sie beschloss, sehr still zu sitzen. Und eine Diät anzufangen.
Jimi Hendrix, der auf einem etwas niedrigeren Hocker saß, sah sie an. Sein Gesicht strahlte Ruhe aus. Nirgends eine Spur von dem Jimi Hendrix, der vor gerade einmal einer halben Stunde auf der Bühne das Mikrofon gepimpert und seine Gitarre gevögelt hatte. Keine Spur von dem Jimi Hendrix, dessen Gitarre in einem verzückten, wollüstigen Stakkato mit seinem Körper gejault, gestöhnt und gebebt hatte.
Jimi Hendrix nahm den leuchtend bunt gemusterten Seidenschal ab, den er um den Hals trug. »Sitzen Sie bequem?«, fragte er Lola Bensky mit leiser, unglaublich höflicher Stimme. »O ja«, sagte sie und sah ihn an und versuchte, ihre Schenkel voneinander zu lösen.
Sie dachte, dass Jimi Hendrix wahrscheinlich noch nie eine
Diät machen musste. Sie dachte, dass er wahrscheinlich von Natur aus schlank war. Sie war nie schlank gewesen. Sie hatte ein Foto von sich, aufgenommen im Lager für Displaced Persons in Deutschland, wo sie zur Welt gekommen war. Auf dem Foto war sie drei Monate alt. Und sie war pummelig. Wie konnte ein Baby, das in einem Lager für Displaced Persons zur Welt kam, pummelig sein? Lola war sich sicher, dass nicht viele andere Bewohner des Lagers, hauptsächlich Juden, die die Vernichtungslager der Nazis überlebt hatten, pummelig waren.
Lola war heiß. Der Raum, in dem sie saßen, Jimi Hendrix' Garderobe, war klein. Und überheizt. Lola war zu warm angezogen. Es war Winter in London. Lola war kalte Winter nicht gewohnt. Sie war in Melbourne, Australien, aufgewachsen, wo der Winter kaum vom Frühling und vom Herbst zu unterscheiden war.
Sie blickte auf die Fragen, die sie vorbereitet hatte. »Wollen Sie mich nicht fragen, was meine Masche ist?«, sagte Jimi Hendrix zu ihr. »Nein«, sagte Lola. Die Frage brachte sie ein wenig aus dem Konzept. Sie wusste nicht, dass er eine Masche hatte. Vielleicht hatte jemand ihm nahegelegt, dass mit den Zähnen Gitarre zu spielen eine Masche sei? Oder mit der Zunge zu schnalzen? Oder den Hals seiner Gitarre zu liebkosen? Sie wusste es nicht.
Sie wusste, dass er 1942 zur Welt gekommen war, als seine Mutter gerade erst siebzehn und sein Vater beim Militär war. Sie wusste, dass er als Baby bei verschiedenen Menschen herumgereicht wurde, bis sein Vater vom Militär zurückkam. Da war Jimi drei. Sie wusste, dass seine Eltern, die sich getrennt hatten, wieder zusammenfanden und noch vier weitere Kinder bekamen. Jimis Brüder Leon und Joseph und seine Schwestern Kathy und Pamela. Joseph kam mit einer Reihe von Behinderungen zur Welt, darunter ein Klumpfuß,
eine Hasenscharte und ein verkürztes Bein. Kathy war eine Frühgeburt und blind, und Pamela hatte ein paar geringfügigere körperliche Behinderungen. Joseph wurde bald unter staatliche Vormundschaft gestellt. Kathy und Pamela ebenso. Als Jimi neun war, waren seine Eltern geschieden, seine Mutter Alkoholikerin, und sein verbliebener Bruder lebte bei immer wieder neuen Pflegefamilien. Lola wusste, dass die Familie so arm war, dass Jimi häufig Lumpen trug.
Von den Turbulenzen seiner Kindheit war Jimi Hendrix nichts anzumerken. Er hatte einen ruhigen Blick und lächelte entspannt. Seine Lippen machten träge, spielerische Bewegungen, wenn er sprach.
Lola sammelte gern Informationen über Menschen und trug sie in Listen zusammen. Sie fand das eigenartig tröstlich. Für ihre Familie hatte sie auch Listen. Listen der toten Verwandten ihrer Mutter und ihres Vaters. Renia Bensky, Lolas Mutter, hatte vier Brüder gehabt, drei Schwestern, eine Mutter und einen Vater, Tanten, Onkel, Cousins, Neffen und Nichten. Am Ende des Krieges waren alle, mit denen Renia Bensky verwandt war, tot. Alle ermordet.
Die Mutter, der Vater, die drei Brüder und die Schwester des Vaters von Renia wurden ebenfalls ermordet. Diese Listen
Weitere Kostenlose Bücher