Lundborg-Westmann & Claes Claesson - 06 - Der Tröster
Jetzt würde sie herausfinden, was los war.
Es kam vom Friedhof, davon war sie jetzt überzeugt. Ihr Blick glitt über die Grabsteine und das Gebüsch jenseits des asphaltierten Pfades. Sie wollte methodisch vorgehen. Zum tausendsten Mal spähte sie über die Stengatan, lauschte angestrengt, atmete so lautlos wie möglich, stand mit geballten Fäusten da und wartete auf ein weiteres Geräusch.
Ein absurdes Gefühl, dass sich jemand mit ihr einen Scherz erlaubte und sie dazu zwang, in der Dunkelheit herumzustehen, beschlich sie. Gleichzeitig war sie aber auch zutiefst beunruhigt und außerdem neugierig. Was sie gehört hatte, war ein Laut der Verzweiflung, der Furcht, vielleicht des Schmerzes. Deutete auf einen Kampf.
Sie hätte ihre Befürchtungen gerne mit jemandem geteilt. Sollte sie Harald anrufen? Nein. Er stellte immer zu viele Fragen. Vielleicht sollte sie die Polizei informieren? Aber die war sicher mit anderem beschäftigt, schließlich war es Freitagabend, und sie selbst wäre nur enttäuscht, wenn niemand kam.
Aber die Polizei hätte Scheinwerfer, mit denen sich das Gebiet ableuchten ließe. Vielleicht lag ein Betrunkener am Wegesrand und übergab sich.
Da ertönte der Klagelaut von Neuem, in eisiger Deutlichkeit und zweifellos weiter unten auf dem Friedhof. Ohne Zögern sprang sie über den Graben hinter der abgerissenen Mauer. Sie rannte los, Pfade entlang, über Gräber, niedrige Buchsbaumhecken und Blumentöpfe hinweg. Sie folgte dem Geräusch, versuchte, die Richtung beizubehalten. Der Laut klang nun gedämpfter, als würde jemand geknebelt.
Die Laternen warfen vereinzelte schwache Lichtkegel auf den Friedhof.
Plötzlich erblickte sie die Umrisse eines Gesichts mit einem weit aufgerissenen Augenpaar.
Vorsichtig schlich sie näher. Stolperte und fiel auf einen Grabstein. Erhob sich, gewann das Gleichgewicht wieder, trat näher.
Jemand saß an einen Grabstein gelehnt. Ihr Herz klopfte, und sie beugte sich vor, um besser sehen zu können.
»Um Himmels willen!«, stieß sie hervor.
Und tastete nach ihrem Handy.
»Warten Sie«, sagte sie zu den aufgerissenen Augen. »Warten Sie!«
Sie hätte gern ein Auto angehalten. Sie wünschte sich jemanden herbei, der ihr helfen würde. Sie wollte mit dieser Sache nicht alleine sein.
Da hörte sie den Knall.
Wie ein Schuss, dachte sie.
Im gleichen Moment sackte sie in sich zusammen wie ein Taschenmesser, das zuschnappt, das Handy flog ihr aus der Hand. Ein furchtbarer Schmerz breitete sich in ihr aus. Sie versuchte, sich aufzurichten, aber es gelang ihr nicht. Sie unternahm ein paar stolpernde Schritte, aber der Schmerz schnitt in ihren Körper, strahlte in alle Richtungen, kehrte ihr Mageninneres nach außen. Sie stürzte.
2
Ein Klingeln aus der Ferne.
Veronika Lundborg schlief tief und traumlos, als wäre sie in einen dunklen Brunnen gefallen. Trotzdem genügte ein Klingeln, um sie zu wecken.
Wie eine Schlafwandlerin streckte sie ihre Hand aus und tastete nach dem Telefon, um es zum Schweigen zu bringen. Sie rollte sich aus dem Bett und antwortete mit rauer, belegter Stimme, die sogar ihr selbst fremd vorkam.
Nicht zum ersten Mal wurde sie mitten in der Nacht geweckt. Die blutroten Leuchtziffern ihres Radioweckers zeigten 00.58 Uhr. Sie hatte eine Stunde geschlafen. Claes regte sich nicht.
Sie schlich nackt in die Diele und starrte durch das Dachfenster auf einen Stern, der heller als alle anderen zu strahlen schien. Vielleicht konnte sie ja gleich wieder unter die Decke kriechen.
»Hörst du mich?«
Daniel Skottes Stimme klang laut und grell, was gar nicht zu ihm passte. Sie wurde gebraucht, und sie war sofort hellwach.
»Ja, ich höre dich«, sagte sie ruhig.
Klara bewegte sich im Schlaf. Veronika hielt den Atem an und hoffte, dass sie nicht aufwachen würde, aber in Gedanken war sie schon fast im Krankenhaus angelangt.
Ein Rettungswagen brachte eine Patientin mit Schussverletzung in die Notaufnahme. Niemand wusste, um wie viele Schüsse es sich handelte. Wahrscheinlich ein Bauchschuss. Vermutlich hatte die Verletzte viel Blut verloren.
»Ich komme sofort.«
»Gut!«
Sie ging davon aus, dass alle Rettungsmaßnahmen, die sie für solche Situationen so oft eingeübt hatten, nun ergriffen werden würden. Und dass jeder an seinem Platz bereitstand, und zwar nicht nur in der Notaufnahme, sondern auch im OP. Und dass sowohl das Röntgen- als auch das Narkoseteam geweckt worden war.
Rasch kleidete sie sich in dem dunklen Schlafzimmer an.
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