Luzie & Leander - 04 - Verblüffend stürmisch
»die Schüh« und meiner Kleidung zurückgegeben hatte, war von Mama konfisziert worden, aber auch darum war ich froh, denn dann hatte sie die unschöne Aufgabe, all die unglücklichen und tränengetränkten Kurznachrichten zu löschen, die sie mir geschickt hatte. Ich hatte gar nicht erst damit angefangen, sie zu lesen. »Die Schüh« allerdings sorgten für beträchtliche Verwirrung, da Serdan sich weigerte, diese »Drecksstiefel« an sich zu nehmen, und Mama ihm sofort unterstellte, er wolle sich wahrscheinlich nur ein paar neue Sneakers erschleichen, was Serdan wiederum richtig zornig machte. Dass er zornig wurde, konnte ich zu gut verstehen, denn nur Papas schnelles und bedachtes Eingreifen hatte ihn vor Mamas schallender Ohrfeige bewahrt, als die beiden uns auflasen.
Ich stellte auf der Rückfahrt mehrfach klar, dass nicht Serdan mich entführt hatte, sondern eher umgekehrt. »Das ist doch lächerlich«, trötete Mama jedes Mal. »Seit wann rufen Entführer ihre Opfer an und die kommen dann per Anhalter zum Tatort?« Doch eine andere Variante konnte sie sich auch nicht schlüssig erklären und so folgte wieder ein Heulanfall, weil sie nicht einsah, sich zu beruhigen. Ich hätte ihnen nicht nur den ersten Urlaub seit Langem ruiniert, sondern sie auch Jahre ihres Lebens gekostet. Sie sahen beide zerknittert und übernächtigt aus, aber mir entging nicht, dass mich ab und zu ein Blick von Papa streifte, der mehr sorgenvoll als strafend war. Wer Augen im Kopf hatte, musste sehen, dass Serdan und ich nicht gerade das Leben genossen hatten, obwohl Serdan nach wie vor ausstaffiert war, als würde er gleich zur Kommunion gehen. Leander und ich hingegen litten unter Blasen und Schürfwunden an unseren nackten Füßen und mein Sonnenbrand hatte zudem böse Spuren auf meinen Schultern hinterlassen. Vielleicht merkte Papa auch, wie gierig ich Wasser trank und das trockene Baguette in mich hineinstopfte, das sie uns unterwegs gönnten. Wasser und Brot. Öfter mal was Neues. Wenn das so weiterging, würden wir noch an Skorbut sterben.
Am meisten brachte Mama und Papa jedoch in Rage, dass wir uns weigerten zu erklären, was wir eigentlich in Le Plan-de-la-Tour machen wollten und wie wir dort hingelangt waren. Dass wir sie auf die falsche Fährte gelockt und an die Atlantikküste geschickt hatten, konnten und wollten sie uns nicht verzeihen und bezüglich dieser Lüge nahmen sie mich genauso hart ins Gericht wie Serdan.
Als wir am späten Abend verschwitzt und übermüdet in Ludwigshafen angekommen waren und Serdan zu Hause bei seinen Eltern abgeliefert hatten – sie erwarteten ihn schweigend und mit verschränkten Armen –, schickten Mama und Papa mich ohne Essen ins Bett und begannen lamentierend die Koffer auszupacken. Es hörte sich an, als wollten sie die gesamte Wohnung umbauen.
Doch nun war es still geworden. Auch Mama und Papa hatten Schlaf nachzuholen. Leander hingegen war aus seiner Starre erwacht, die ihn umfangen hatte, nachdem wir ausgestiegen waren, denn er hatte die Fahrt im Laderaum »bei den Leichen« verbringen müssen. Neben mir auf der Rückbank hatte ja Serdan gesessen, stumm wie ein Fisch und mit Luftblasengesicht. Doch wann immer meine Augen seine streiften, leuchteten sie kurz auf und wir wussten, dass wir etwas erlebt hatten, was uns keiner jemals wieder nehmen konnte und uns für immer verbinden würde.
Ich wandte mich mit einem zweiten tiefen Seufzen von der Tür ab und setzte mich auf mein Bett.
»Also, hör zu«, begann Leander mit erhobener Hand, als wolle er zu seinen Worten dirigieren. »›Vermisste Jugendliche gefunden. Das vierzehnjährige Mädchen und der fünfzehnjährige Junge, die seit Tagen als vermisst galten und zuletzt an der französischen Atlantikküste vermutet wurden, haben sich in der kleinen Ortschaft Le Plan-de-la-Tour der Polizei gestellt. Offensichtlich handelt es sich bei ihrer Tour durch Frankreich um einen Jugendstreich; ein Verbrechen oder eine Entführung wird von der Polizei inzwischen definitiv ausgeschlossen. Warum die beiden Ludwigshafener Schüler sich allerdings an der Côte d’Azur und nicht, wie von dem Jungen angekündigt, in Cap Ferret aufhielten, konnte nicht geklärt werden. Gerüchten zufolge sollen die Jugendlichen in das Anwesen des US-Filmschauspielers Johnny Depp eingedrungen sein. Das Management von Depp jedoch bestreitet dies. Es ist alles wie immer, uns geht es gut, zitiert es den Fluch der Karibik- Darsteller.‹ – Glück gehabt, Luzie.
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