LYING GAME Und raus bist du
meinem Hintergarten in Tucson, einer gepflegten Wüstenlandschaft mit einer Holzschaukel, auf der ich früher Burgfräulein gespielt hatte. Wie gesagt erinnerte ich mich an die merkwürdigsten und unwichtigsten Details, alles Wichtige war aus meinem Gedächtnis verschwunden. Ich folgte Emma seit einer Stunde und versuchte, mir ein Bild von ihrem Leben zu machen und mich gleichzeitig an meines zu erinnern. Nicht, dass ich eine Alternative gehabt hätte. Wo sie hinging, ging auch ich hin. Mir war auch nicht klar, warum ich so viel über Emma wusste – während ich sie beobachtete, landeten die Fakten in meinem Kopf wie SMS in einem Posteingang. Ich kannte die Einzelheiten ihres Lebens besser als die meines eigenen.
Emma ließ die Tasche auf den pseudo-schmiedeeisernen Gartentisch fallen, setzte sich in einen Plastik-Gartenstuhl und reckte das Gesicht zum Himmel. Das einzig Schöne an diesem Hintergarten war, dass er von den Casinos abgewandt lag und den Blick auf ein klares, unverbautes Stück Himmel freigab. Der Mond hing über dem Horizont wie eine aufgequollene blasse Waffel. Emmas Blick wanderte zu zwei hellen, ihr vertrauten Sternen im Osten. Mit neun Jahren hatte Emma den rechten Stern sehnsüchtig den Mom-Stern und den linken den Dad-Stern getauft. Den kleineren, hell strahlenden Punkt direkt unter ihnen hatte sie Emma-Stern genannt. Sie hatte sich viele Märchen zu diesen Sternen ausgedacht und so getan, als seien sie ihre wirkliche Familie, mit der sie eines Tages auch auf der Erde wieder vereint sein würde.
Emma hatte den größten Teil ihres Lebens bei Pflegefamilien verbracht. Ihren Dad hatte sie noch nie gesehen, aber sie erinnerte sich an ihre Mutter, bei der sie bis zu ihrem fünften Lebensjahr gelebt hatte.
Ihre Mom hieß Becky. Sie war eine grazile Frau, die gerne Glücksrad geschaut und dabei die Antworten gerufen hatte. Sie hatte im Wohnzimmer zu Michael-Jackson-Songs getanzt und Klatschblätter mit Storys wie »Kürbis gebiert Baby!« und »Fledermaus-Mensch lebt!« gelesen. Becky hatte für Emma in der Wohnanlage, in der sie lebten, Schnitzeljagden veranstaltet und ihr als Preis entweder einen gebrauchten Lippenstift oder ein Mini-Snickers gegeben. Sie hatte Emma im Secondhand-Shop Tutus und Spitzenkleider zum Verkleiden gekauft. Sie hatte Emma vor dem Schlafengehen aus Harry Potter vorgelesen und sich für jede Figur eine andere Stimme ausgedacht.
Aber Becky war wie ein Rubbellos gewesen: Emma hatte nie gewusst, was sie von ihr zu erwarten hatte. Manchmal lag Becky den ganzen Tag mit verzerrtem und tränenüberströmtem Gesicht weinend auf der Couch. Manchmal zerrte sie Emma zum nächsten Kaufhaus und kaufte ihr alles doppelt. »Warum brauche ich zwei Paar gleiche Schuhe?«, fragte Emma dann. Und Becky antwortete mit abwesendem Gesichtsausdruck: »Falls das erste Paar schmutzig wird, Emmy.«
Becky konnte auch sehr vergesslich sein – einmal ließ sie Emma versehentlich im Supermarkt zurück. Nach Luft ringend hatte Emma das Auto ihrer Mutter auf dem flirrend heißen Highway davonfahren sehen. Der Verkäufer an der Kasse hatte ihr ein Orangen-Wassereis gegeben, sie auf die Kühltruhe vor dem Laden gesetzt und dann ein paar Anrufe getätigt. Als Becky endlich zurückkam, hob sie Emma hoch und drückte sie fest an sich. Ausnahmsweise beschwerte sie sich auch nicht, als Emma ihr Kleid mit orangefarbenem Eismatsch bekleckerte.
In einer Sommernacht nicht lange danach übernachtete Emma bei Sasha Morgan, ihrer Kindergartenfreundin. Als sie am Morgen erwachte, stand Mrs Morgan mit elendem Gesichtsausdruck an ihrer Tür. Offenbar hatte Becky einen Zettel unter der Haustür der Morgans durchgeschoben, auf dem stand, sie mache »einen kleinen Ausflug«. Ein ziemlich großer Ausflug, wie sich herausgestellt hatte – er dauerte nun schon dreizehn Jahre.
Als niemand Becky finden konnte, übergaben Sashas Eltern Emma an ein Waisenhaus in Reno. Aber adoptionswillige Paare hatten kein Interesse an Fünfjährigen – sie wollten Babys, die sie in Miniaturversionen ihrer selbst verwandeln konnten –, also lebte Emma in Heimen und dann in Pflegefamilien. Obwohl sie ihre Mutter immer lieben würde, vermisste sie sie eigentlich nicht – zumindest nicht die depressive, manische oder verrückte Becky, die sie im Supermarkt vergessen hatte. Sie vermisste aber das Konzept einer Mutter: einer stabilen und verlässlichen Person, die ihre Vergangenheit kannte, sich auf ihre Zukunft freute und sie bedingungslos
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