M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)
und betrachtete weiter den laut- und bildlosen Fernseher, »zuerst ein Gespräch führen. Ich möchte, dass die Frau, in deren Schrank du die Beweisstücke gefunden hast, vor mich hintritt und mir ins Gesicht sagt, dass sie für den Tod meines Sohnes die Verantwortung trägt. Ich möchte die Erste sein, die die Wahrheit erfährt. Darauf habe ich ein Recht, verstehst du mich, Süden?
Ich will die Tatsachen nicht aus der Zeitung erfahren oder aus dem Mund eines Polizisten, dem ich sowieso nicht traue. Ich will, dass niemand mich unterbricht.
Ob diese Handschuhe wirklich dieselben sind, die ich Ingmar gestrickt habe, wissen wir nicht, genauso wenig, wo sich dieses Bett befand und inwieweit Mia Bischof in die Entführung verwickelt war. Nichts ist bewiesen, aber ich weiß, dass alles so war und diese Frau schuldig ist. Ich will, dass sie sich zu ihrer Schuld bekennt, in meiner Gegenwart, hier in diesem Zimmer, vor mir und vor niemandem sonst. Ich möchte nicht einmal, dass du anwesend bist. Ich will allein sein, so wie ich die vergangenen zehn Jahre allein gewesen bin.
Was ich gerade gesehen habe, ist ungeheuerlich, und ich kann dir nicht erklären, wieso ich immer noch hier stehe und nicht schon längst aus dem Fenster gesprungen bin.
Ich habe das Gesicht meines Sohnes gesehen, zehn Jahre nach seinem Tod. Ich habe seine Augen gesehen, seine Kleidung und seine gefesselten Hände. Hast du die Botschaft seiner Augen erkannt, Süden? Hast du begriffen, was er uns sagen wollte? Er wollte sagen: Wo bist du, Mama, warum holst du mich nicht hier raus und umarmst mich wie immer, wenn es mir schlechtgeht. Warum bist du nicht bei mir, Mama?
Wo war ich denn? Ich war zu Hause, ich habe den Polizisten vertraut und mich mit meiner parfümierten Hoffnung zufriedengegeben. Ich war nicht da. Ich war nicht da. Und er hat kein Wort darüber verloren. Keine Anklage, nur ein stummes Bitten. Wieso hast du diese Kassette gefunden, Süden? Was soll ich denn jetzt damit anfangen? Wieso hast du überhaupt in der Wohnung von der Frau herumgeschnüffelt? Ist das erlaubt? Nein. Illegal. Und dann findest du dieses Video und die Handschuhe dazu, und ich weiß plötzlich nicht mehr, in welcher Welt ich bin. Wo bin ich?
Geht gleich die Tür auf, und Ingmar kommt von der Schule heim, und ich umarme ihn, und er erzählt mir, wie blöd die Lehrerin gewesen ist, weil sie das Bild nicht kapiert hat, das er gemalt hat? Wieso ist es so dunkel hier? Es ist doch Mittag, und die Sonne scheint. Ich war nicht da. Ich war nicht da.
Hör nicht auf mich, Süden, hör weg. Ich bin eine alte, verbitterte Mutter.«
Sie wandte sich ihm zu, steckte die grünen Handschuhe in die rechte und linke Tasche ihres Blazers und legte ihre Hand an sein Gesicht. »Ich will, dass die Frau vor mir steht, so wie du jetzt. Ich will, dass sie gesteht und sagt, warum sie es getan hat. Ich will, dass sie den Mut hat.
Ich will verstehen, warum sie mich mit all den leeren Zimmern zurückgelassen hat, in denen mein Junge niemals leben durfte.
Aber ich fürchte, sie wird feige sein und mich anlügen. Eine Frau wie sie, die ein Kind entführen und ermorden lässt, ist die Ausgeburt von Feigheit. Ein feigeres Lebewesen existiert auf diesem Planeten nicht. Das macht nichts. Ich will, dass sie kommt und mir ins Gesicht sieht, so wie sie ins Gesicht meines Sohnes gesehen hat. Ich will, dass sie ihn in mir wiedererkennt. Dann kannst du sie mitnehmen und zur Polizei bringen.«
Sie legte auch die andere Hand an Südens Gesicht. Sie sah ihn an, gab ihm einen flüchtigen, kühlen Kuss auf den Mund und ging hinaus auf die Toilette, wo sie sich einschloss. Süden ging zum Fenster und bemerkte im Vorbeigehen, dass die Handtasche, die Edith Liebergesell tagaus, tagein bei sich trug und die wie immer auf dem Boden vor ihrem Schreibtisch stand, die gleiche Farbe hatte wie Ingmars fusselige Handschuhe. Bisher hatte Süden die Tasche eher für ein schrilles Accessoire gehalten. Jetzt kam sie ihm vor wie eine grüne Wunde.
Unten, auf dem asphaltierten Platz, tranken zwei Stadtstreicher in dicken Mänteln und umzingelt von prall gefüllten Plastiktüten, Bier aus Flaschen und schwankten im biestigen Wind.
»Lausiges Spiel heute Nachmittag«, schrieb sie auf ihrer Facebook-Seite. »Bin immer noch enttäuscht über die ganz schwache Torausbeute trotz der vielen Möglichkeiten. Zum Glück waren viele Freunde dabei (spezielle Grüße an Martin! Schade, dass du nach dem Spiel gleich abgehauen bist). Aber
Weitere Kostenlose Bücher