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M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)

M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)

Titel: M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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er aus dem Rucksack auf den Boden von Mias Apartment gekippt hatte. Edith Liebergesell inhalierte. Der Aschenbecher quoll über von Kippen.
    »Die Handschuhe«, sagte sie. »Siehst du die grünen, wollenen Handschuhe, die sind … Die sehen genauso aus wie die, die Ingmar anhatte, als er entführt wurde. Wie ist das möglich? Du musst noch einmal in die Wohnung und sie holen, ich muss sie mir genauer ansehen, heute Nacht noch. Und die Videokassette auch. Stell dir vor, dass … Kannst du bitte noch mal hingehen, für mich? Die Handschuhe, die habe ich ihm gestrickt, in dieser Farbe, schau dir die Farbe an. Was bedeutet das denn?«
    Sie drückte den Stumpen ihrer Zigarette aus. Süden legte ihr die Hand auf die Schulter, nicht weniger verstört als sie. »Und sieh doch: Auf der Kassette klebt ein Zettel, da steht ein Buchstabe. Ist das nicht ein I? Ein I wie … Bitte, du musst sofort los, ich warte hier auf dich.«
    Süden schwieg, und als er es bemerkte, sagte er: »Es sind alte, zerfledderte Handschuhe.« Das war nicht das, was er sagen wollte. Den Gedanken, der ihn seit dem Augenblick, als er das vergrößerte Bild betrachtet hatte, gefangen hielt, wagte er nicht auszusprechen. Keine Sekunde hatte er Ediths panische Vermutung für abwegig gehalten. Keine Sekunde hatte er etwas anderes gedacht als sie. Und dennoch wollte er – wozu auch immer, begriff er nicht – Zeit schinden, ein Schlupfloch suchen, eine Erklärung zimmern, die dem Orkan ihrer beider Vorstellung standhielt.
    »Ich rufe Mia Bischof an«, sagte Süden. »Wenn sie schon wieder in München ist, haben wir Pech gehabt.«
    Edith Liebergesell zündete sich eine neue Zigarette an. Sie vermittelte nicht den Eindruck, als würde sie zuhören. Sie rief ein Bild nach dem anderen im Computer auf, vergrößerte es, sprang mit dem Cursor vor und zurück, während sie an ihrer Zigarette sog, was ein schmatzendes Geräusch erzeugte. Süden hatte es noch nie gehört.
    Auf seinem Handy tippte er die Nummer des Hofhotels Geiger, ging zum langen Tisch vor der Fensterfront, setzte sich und schlug einen der Schreibblöcke auf, die dort lagen. »Frau Bischof, bitte«, sagte er, klopfte mit einem Kugelschreiber aufs Papier. »Dann Herrn Geiger, es ist dringend.« Er saß mit dem Rücken zu Edith, die keine Notiz von ihm zu nehmen schien.
    »Geiger.«
    »Süden. Ich möchte Ihre Tochter sprechen.«
    »Sie ist bereits in ihrem Zimmer, kann ich helfen?«
    »Nein«, sagte Süden. »Ihre Tochter sollte mich zurückrufen.«
    »Habe ich ihr selbstverständlich ausgerichtet.«
    »Holen Sie sie bitte an den Apparat.«
    »Ich weiß nicht, ob sie noch wach ist.«
    »Ich warte.« Süden legte das Handy auf den Tisch und schaltete den Lautsprecher ein. Hätte er gesagt, er würde morgen früh noch einmal anrufen, könnte er schon auf dem Weg nach Neuhausen sein. Aber er wollte sichergehen, dass Mia Bischof sich tatsächlich noch in Starnberg aufhielt.
    Er dachte an die grünen, zerfledderten Handschuhe aus dem Militärrucksack, den Mia in ihrem Schrank bunkerte. Er dachte an das Ausmaß der Erschütterung, die von der Winthirstraße aus das Land erfassen würde, falls sich an den Handschuhen DNA-Spuren des achtjährigen Ingmar nachweisen ließen.
    Er dachte an dessen Mutter, die sich jedes Jahr in der letzten Januarwoche in ihr Asyl aus Erinnerungen zurückzog, nachdem ihre Gedanken sie wieder einmal aus der Wirklichkeit verjagt hatten. Danach kehrte sie zurück und sprach nicht mehr davon, was sie im Inneren erlebt hatte. In diesem Jahr, so behauptete sie, hätte sie dem Schmerz endgültig seinen Platz zugeteilt und sich damit abgefunden, dass die Ermordung ihres Buben niemals aufgeklärt werden würde. Zehn Jahre trostloser Hoffnung reichten bis zum Lebensende. Und nun saß sie an ihrem Schreibtisch, gefesselt an den Anblick verschlissener Handschuhe, die sie vielleicht selbst gestrickt hatte. All die Jahre waren die Handschuhe von einer Frau aufbewahrt worden, die genau in der Zeit, als Edith im Schein von vierzehn Kerzen der unsterblichen Gegenwart ihres Sohnes gedachte, der Detektei Liebergesell, auf deren Namen sie angeblich zufällig gestoßen war, den Auftrag erteilte, ihren verschwundenen Geliebten zu suchen.
    War es denkbar, dachte Süden, dass Mia die Detektei nicht zufällig, sondern absichtlich ausgewählt hatte? War das der gewöhnliche Zynismus einer Frau mit steinernem Herzen?
    »Hallo. Ich bin hier«, sagte Mia Bischof ins Telefon. Süden nahm das

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