M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)
Hutter.
»Habe ich verstanden. Danke, dass Sie mich auf dem Laufenden halten.«
»Entschuldigen Sie nochmals die Störung zu der ungewöhnlichen Uhrzeit.«
Mit einem Übermaß an Höflichkeit beendeten die beiden Staatsbeamten das Telefonat. Der Mordermittler Franck nahm sich vor, im Lauf des Sonntags die Detektei Liebergesell zu informieren und sich nach dem Befinden des schwerverletzten Mannes zu erkundigen.
Hutter saß noch eine Weile in seinem Büro in der Maillingerstraße und fragte sich zum wiederholten Mal, wann sein Kollege beim Verfassungsschutz endlich den Namen des V-Mannes preisgeben würde, wegen dem er ständig die Kollegen von der Mordkommission anlügen musste. Um diese Verbindungsperson machten sie in Milbertshofen seit Wochen ein Gewese, das Hutter allmählich beleidigend fand und das vor dem Hintergrund der Ermittlungskatastrophe vor noch nicht allzu langer Zeit schädlich für alle Beteiligten war. Trotzdem würde er geduldig warten, bis ihm konkrete Einsatzpläne vorlagen, die seinen Leuten den bisher unter maximaler Geheimhaltung seitens des LfV avisierten Zugriff ermöglichen würden.
Um welche Zielpersonen es sich im Einzelnen handelte, wusste er noch nicht. Die Tatsache, dass ein verdeckter Ermittler aus der eigenen Behörde weiterhin spurlos verschwunden war, verlagerte die gesamte Situation sowieso schon in die Nähe eines Alptraums. Zumal der Kollege Welthe offensichtlich wie ein Blinder in der Wüste umherirrte, wohin ihn diese Detektei geschickt hatte, die das LKA im Moment so dringend brauchte wie einen Computervirus.
Dann dachte er an seine Tochter, der er für morgen einen Ausflug zu einem Reiterhof versprochen hatte. Für Luis Hutter waren Pferde ungefähr so attraktiv wie Detektive.
30
D ie Szene dauerte nur eine Minute. Der Junge kauert auf der schäbigen Matratze eines Bettes, die Hände hinter dem Rücken ans Gestell gefesselt. Seine blonden Haare stehen ihm kreuz und quer vom Kopf, sein schmales weiches Gesicht ist so bleich wie die Wand. Er trägt Bluejeans, einen dunkelblauen Pullover, aus dem schief ein weißer Hemdkragen hervorlugt, darüber einen schwarzen Anorak, dessen Reißverschluss geöffnet ist. Sein Blick ist starr auf die Kamera gerichtet und will nichts verraten. Doch seine Augen sind voller blauer Angst. Nichts geschieht. Kein Laut. In dem Jungen muss ein Herkulesherz schlagen. Er zeigt keine Schwäche, keine Träne. Eine Minute lang. Dann wendet die Kamera sich ab und gibt einen letzten Blick auf die mit einem Seil verschnürten Hände frei. Ingmar trägt grüne, beinah leuchtende Wollhandschuhe. Dann Dunkel. Das Rauschen der Videokassette. Stille.
Der Bildschirm des Röhrenfernsehers blieb schwarz. Gewöhnlich stand er auf dem Rollwagen in einer Ecke der Detektei. Auf dem Regal darunter ein Videorekorder und ein DVD-Spieler. Seit Süden in der Detektei arbeitete, hatten sie die Geräte kein einziges Mal benutzt.
Weder er noch Edith Liebergesell hatten sich einen Stuhl geholt, sie standen nebeneinander vor dem Fernseher, stumm, am Rand des Lichts, das die Lampe mit dem grünen Glasschirm auf dem Schreibtisch für sie übrig ließ. Der Rest des Weltalls war schwarz wie das erloschene Bild des Fernsehers.
Wie auf einem Tablett hielt Edith die zerschlissenen Handschuhe ihres Sohnes in ihren offenen Händen. Es sah aus, als wollte sie sie jemandem übergeben, einem Boten aus der Unterwelt vielleicht.
Eine Stunde – oder drei Minuten – später sagte Süden: »Ich rufe die Polizei an.« Und wieder eine Stunde – oder eine Minute – später erwiderte Edith Liebergesell: »Das möchte ich nicht.«
Sie – wer immer damit gemeint sein mochte –, dachte Süden, hatten die Handschuhe und das Video als Trophäen aufbewahrt. Sie hatten den Jungen entführt, um Geld für neue Anschläge zu erpressen. Um die Kasse der Bewegung aufzufüllen. Um Waffen, falsche Pässe, Wohnungen, Fahrzeuge zu beschaffen. Um das zu tun, was ihrer Natur entsprach. Und sie hatten Erfolg. Sie bekamen das Geld und die Freiheit.
Niemand hätte damals für möglich gehalten, dass »sie« hinter der Entführung des Jungen stecken könnten. In den Computern ihrer Gegner existierten sie nicht, vermutlich nicht einmal in deren Köpfen.
Die Suche nach einem vermissten Taxifahrer, dachte Süden, mündete möglicherweise in der Aufklärung eines zehn Jahre zurückliegenden Kapitalverbrechens. Doch die Mutter des Opfers hatte eigene Pläne.
»Ich möchte«, sagte Edith Liebergesell
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