M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)
doch nicht.« Mit einem routinierten Schulterzucken streifte die alte Frau den Rucksack ab und presste ihn sich an den Bauch. Schwere Sachen schien sie nicht zu transportieren. Sie zog den Reißverschluss der Außentasche auf und holte einen Schlüsselbund hervor.
»Er wollte auch zu Herrn Denning«, sagte Süden.
»Wollte wissen, wo er ist. Bin ich seine Sekretärin? Ich weiß nicht, wo er ist. Hab ihn länger nicht gesehen, er wohnt im ersten Stock über mir. Sympathischer Mann, fährt Taxi, glaub ich.«
»Er wohnt schon lange hier.«
»Nein.« Den Rucksack an sich gedrückt, steckte sie einen der Schlüssel ins Türschloss. »Zwei, drei Jahre ungefähr. Ist was passiert?«
»War der Mann, der in der letzten Woche nach ihm gefragt hat, Polizist?«
»Die tauchen doch immer zu zweit auf. Der war allein. Hatte auch keine Uniform an.«
»Wie heißen Sie?«
»Rosa Weisflog und Sie?«
»Tabor Süden.«
»Süden ist immer gut.«
»Hat der Mann seinen Namen genannt?«
»Welcher Mann? Ach der! Nein. Hat gesagt, er ist ein Freund und macht sich Sorgen. Mir ist kalt, ich kann Ihnen nicht weiterhelfen.«
»Hat der Hausmeister einen Zweitschlüssel zu den Wohnungen?«
»Wir sind schon froh, wenn der Hausmeister einen Schlüssel zu seinem Gedächtnis hat. Der vergisst alles, wenn man ihn nicht hundertmal dran erinnert. Der hat garantiert keinen Zweitschlüssel, von meiner Wohnung jedenfalls nicht. Glauben Sie, der Herr … der liegt da in seiner Wohnung … Nein, da würd man ja was riechen, oder nicht?«
»Nicht, wenn ein Fenster gekippt ist.«
»Bei der Kälte ein Fenster kippen? Wer macht so was?«
»Ist Post in seinem Briefkasten?«
»Lässt sich feststellen.« Rosa Weisflog verschwand im Hausflur. Süden hörte ein blechernes Klappern, dann kam sie zurück, ohne Rucksack. »Nichts drin. Ich glaub, der kriegt nie viel Post.«
»Werbung ist auch keine da.«
»So was kommt uns nicht ins Haus, wir haben alle einen Aufkleber auf dem Briefkasten: Werbung verboten. Das funktioniert.«
»Ich würde gern seine Wohnungstür sehen, Frau Weisflog.«
»Und dann?«
»Ich breche nicht ein, ich will mir nur ein Bild machen.«
»Ein Bild von einer Tür?«
»Unbedingt.«
»Haben Sie einen Ausweis dabei?«
Aus der Innentasche seiner Daunenjacke holte Süden seinen Pass und eine Visitenkarte der Detektei. Die alte Frau betrachtete nur die Karte. »Tabor Süden, Detektei Liebergesell, da steht’s. Ein leibhaftiger Schnüffler.«
»Ich schnüffele nicht«, sagte Süden.
»Sie können Ihren Pass wieder einstecken, ich glaub Ihnen schon, dass Sie ein Schnüffler sind, so wie Sie hier herumschnüffeln.«
Süden war sich nicht sicher, aber das Zucken ihrer Mundwinkel könnte ein Lächeln gewesen sein. Er sagte: »Behalten Sie die Visitenkarte, vielleicht fällt Ihnen noch was zu Herrn Denning ein.« Er hielt ihr die Karte hin, und sie nahm sie mit einem desinteressierten Nicken, als würde er ihr den Werbeprospekt einer Beautyfarm aufdrängen.
Während er in den ersten Stock hinaufstieg, ließ sie ihre Wohnungstür angelehnt. Im Treppenhaus hing der Geruch nach gekochtem Kohl, irgendjemand war also doch zu Hause.
Neben der einen Tür hing ein vergilbtes Namensschild – »Becher« –, neben der anderen ein leereres Schildkästchen. Ein blassroter Fußabstreifer lag davor, die Tür hatte kein Guckloch.
Süden lehnte sich an den Türrahmen und schnupperte so vernehmlich wie möglich. In Anwesenheit der alten Frau, die unten ihre Ohren spitzte, wollte er seinem Ruf als Schnüffler alle Ehre machen. Mehr als Moder oder die Ausdünstungen des Kohls nahm er nicht wahr. Er klopfte, drückte auf die Klingel, wartete.
Dann beugte er sich über das Treppengeländer und rief: »Wer kocht hier im Haus Gemüse, Frau Weisflog?« Weil er keine Antwort erhielt, ging er wieder hinunter. Die alte Frau stand im Flur ihrer Wohnung, die eine Hand am Griff der halboffenen Tür, in der anderen Hand hielt sie die Visitenkarte. »Bitte fragen Sie die Mieterin, die gerade am Kochen ist, ob sie etwas über den Verbleib von Herrn Denning weiß. Wenn ja, rufen Sie mich an, Frau Weisflog, unter der Nummer auf der Karte.«
»Mein Telefon spinnt.«
»Vielleicht lässt ihre Nachbarin sie telefonieren, die Frau mit dem Kohl.«
»Ich werd sie fragen.«
»Haben Sie mit Herrn Denning über Politik gesprochen?«
»Wirklich nicht.«
»Wissen Sie, dass er früher ein Bekleidungsgeschäft hatte?«
»Weiß ich nicht, geht mich nichts an. Wenn
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