M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)
Herr Denning auftaucht, sag ich Ihnen Bescheid.«
»Das wäre nett.«
Wieder zuckten ihre Mundwinkel, doch diesmal versickerte das Lächeln in der grauen Haut.
Draußen hatte es angefangen zu schneien. Flüchtige Flocken tänzelten im dämmernden Licht. Die Lampen auf dem Gelände brannten noch nicht. Hinter einigen Fenstern gingen die ersten Lichter an, auch im Erdgeschoss von Haus Nummer 27.
Süden, ziellos unterwegs auf den Wegen zwischen den monotonen Gebäuden, dachte an die Bemerkungen des Taxifahrers, der ihn hergefahren hatte. Denning habe eigenartige, scheinbar rechtslastige politische Ansichten geäußert, wirke ansonsten aber nicht wie ein Fanatiker, der andere bekehren wolle. Über solche Themen hatte Mia Bischof kein Wort verloren. Das bedeutete nicht viel, dachte Süden, da sie insgesamt wenig Handfestes über Siegfried Denning ausgesagt hatte. Was Dennings Eltern betraf, hatte Mia erklärt, so habe er ihr erzählt, sie wären vor mehr als zehn Jahren gestorben, beide an Krebs, innerhalb weniger Wochen. Sein Vater, ein ehemaliger Unteroffizier der Marine, habe eine Seebestattung für sich und seine Frau verfügt, daher hätten die beiden ihre letzte Ruhestätte im Atlantik gefunden. Nach Mias Aussagen verbrachte Denning seine ersten Kindheitsjahre in Berlin, bevor die Familie Mitte der sechziger Jahre aus der geteilten Stadt nach Süddeutschland zog, in welchen Ort, wusste Mia nicht. Seit zwanzig Jahren würde Denning in München leben.
Um die Telefonrecherche im familiären Umfeld des Vermissten wollte sich Patrizia Roos kümmern, falls sie ihre Ehebruchssache heute zu Ende bringen konnte. Als Polizist hätte Süden sich Zugang zu Dennings Wohnung verschafft, notfalls mit der Hilfe eines Schlüsseldienstes. Wieso Mia keinen Schlüssel hatte, war ihm ein Rätsel, ebenso, dass Denning angeblich keinen zu ihrer Wohnung besaß.
Wie eng war diese Beziehung eigentlich?, fragte sich Süden. Unvermittelt stand er vor einem kleinen Supermarkt, dem ersten Geschäft, das er im Viertel bemerkte. Jedenfalls schien die Sorge von Mia Bischof um ihren Freund begründet zu sein, nachdem er seinen Arbeitgeber allem Anschein nach angelogen hatte. In ihrer Wohnung war Denning nachweislich noch nicht krank gewesen – abgesehen von seiner mentalen Veränderung, die sie der Polizei verschwiegen hatte –, und er lag auch nicht mit einer Grippe zu Hause. Er ging nicht mehr ans Telefon, hatte sein Handy ausgeschaltet, meldete sich weder bei seiner Freundin noch in der Taxizentrale.
In spätestens einer Stunde würde Süden Mia Bischof anrufen, ihr von seinen bisher eher spärlichen Ermittlungsergebnissen berichten und die erste Rate des Honorars einfordern. Andere Detekteien baten Klienten, die sie noch nicht kannten, um Vorkasse. Edith Liebergesell hatte eingeführt, dass erst einige Stunden gearbeitet und anschließend über das weitere Procedere entschieden wurde. Vertrauen gegen Vertrauen, sagte die Chefin und hatte Erfolg damit.
»Ich glaub, ich weiß, wen Sie meinen«, sagte der Inhaber des Supermarkts, Olaf Schildt. »Haben Sie kein Foto von dem Mann?«
Süden und Kreutzer hatten Mia mehrfach nach einem Foto gefragt, aber sie beteuerte, kein einziges zu besitzen. Ist das zu glauben?, fragte Kreutzer später. Was nützt es uns, erwiderte Süden, wenn wir ihr nicht glauben? Welchen Grund könnte jemand haben, die Herausgabe eines Fotos ausgerechnet von dem Menschen zu verweigern, um dessen Wohlergehen er besorgt war und den er deshalb für fünfundsechzig Euro in der Stunde von Detektiven suchen ließ? Weder Süden noch seinen Kollegen war ein passabler Grund eingefallen. Das bedeutete, Mia hatte nicht gelogen. Auf die Frage, ob Denning ein Foto von ihr habe, antwortete sie unumwunden: »Nein, auch nicht.« Also mussten sie sich – ein Novum in ihrer Arbeit – mit einer Beschreibung begnügen.
»Der Beschreibung nach ist er es«, sagte Schildt. »Ein freundlicher Mann, kauft bei uns ein.« Seit wann Denning in den Supermarkt käme, wisse er nicht genau, mindestens seit einem Jahr, möglicherweise länger. Schildt ging nach hinten zur Fleisch- und Wursttheke und fragte die alte Frau in der weißen Schürze – seine Mutter, wie Süden kurz darauf erfuhr. Er schätzte sie auf mindestens achtzig. Auch sie erinnerte sich gut an den großgewachsenen Mann mit der rauhen Stimme, konnte aber keine Angaben darüber machen, wie lange sie ihn schon kannte. Süden bedankte sich, sah sich um, als suche er etwas,
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