Macabros 018: Knochentunnel in das Grauen
bis hoch zu den Dachbalken. Hier oben war eine richtige
Rumpelkammer. In der Ecke stand eine alte Nähmaschine, daneben
eine Truhe, aus der Lumpen und nicht mehr getragene
Kleidungsstücke hervorquollen.
»Ist da jemand?« Marina Koller blickte sich um.
Ihr eigenes Echo antwortete ihr leise.
Sie trat einen Schritt weiter vor und mußte über Kisten
und Kasten steigen. Hier oben war alles staubig, und Marina wirbelte
diesen Staub auf und mußte husten.
Sie starrte in die schattige Ecke. Keine Ratten!
Sie wandte sich um und ging zur anderen Ecke.
Plötzlich krachte es. Mit einem Aufschrei warf Marina Koller
sich herum.
Ein Rechen und ein alter Spaten, die an die dünne Bretterwand
lehnten, waren umgekippt, weil Marina mit dem breiten Ärmel
ihres Morgenmantels an sie gestoßen war.
Die Pensionswirtin atmete hörbar auf. »Du wirst alt,
Marina«, sagte sie im Selbstgespräch vor sich hin.
»Deine Nerven sind nicht mehr die besten. Jetzt erschrickst du
schon vor dir selbst.«
Auf dem Boden konnte sie nichts Verdächtiges feststellen, bis
das Geräusch wieder anfing.
Es kam aus der rückwärtigen Wand; davor
stand ein uralter, schwarzlackierter Kleiderschrank, der, solange sie
zurückdenken konnte, diese Stelle einnahm.
Marina Koller öffnete die Türen. Die Scharniere
quietschten. Der Schrank hing voll mit Mottenkugeln und muffigen
Kleidern, und sie fragte sich, weshalb sie diese alten Lumpen
eigentlich aufhob. Es gab keinen vernünftigen Grund dafür.
Dinge, die man nicht mehr brauchte, wurden hier einfach nach oben
geschleppt und verstaut, man wollte sie später wegwerfen –
und vergaß sie dann.
Ratten und Mäuse im Schrank. Das hätte sie nicht
gewundert.
Aber da war nichts! Das Geräusch lag hinter der
Rückwand.
»Nun will ich’s aber genau wissen«, murmelte
sie.
Sie versuchte, den Schrank zu verrücken, aber er stand fest
wie angeschraubt. Sie bediente sich eines Tricks, den sie mal gesehen
hatte. Nachdem sie alle Kleider und Stöße von alten
Zeitungen einfach in eine Ecke gepackt hatte, probierte sie ein
zweites Mal ihr Glück. Sie stemmte sich mit dem Rücken
gegen die Seitenwand und drückte mit den Armen gegen die
Kalkwand.
Ruckartig, stieß sie gegen den Schrank. Er bewegte sich!
Marina schaffte es, daß er sich um einige Zentimeter von der
Wand löste. Der Spalt dahinter verbreiterte sich.
Sie wandte den Kopf, denn sie konnte sich nicht vorstellen,
daß hier hinten Ratten sein sollten. Die hatten doch gar keinen
Platz. Es sei denn, das Mauerwerk war brüchig und…
Marina Koller erschrak.
Wie Nebel quoll ihr etwas entgegen.
Nebel – hier oben auf dem Dachboden?
Das ging nicht mit rechten Dingen zu.
*
War die Rohrleitung defekt, über die das heiße Wasser
transportiert wurde?
Unsinn!
Hier oben liefen keine Rohre mehr. Der Nebel kam von
außen.
Unruhe und Ratlosigkeit erfüllte sie. Marina mochte keine
Ungewißheit.
Es gelang ihr, in den nächsten fünfzehn Minuten den
Schrank so weit von der Wand zurückzurücken, daß der
Spalt breit genug war, sie aufzunehmen.
Dieser kühle Dunst, der von Irgendwoher kam, war die ganze
Zeit unverändert hinter dem Schrank vorgedrungen, hatte sich in
der engen Dachkammer verbreitert und auf geheimnisvolle Weise wie
Atem aufgelöst.
Marina Koller hatte das Gefühl, durch eine Nebelwand zu
gehen.
Mysteriös kam ihr das Ganze vor.
Sie führte ihre Hände an der holprigen Kalkwand
entlang.
Es gab keinen Zweifel: die Nebelwolken lösten sich von dort.
Es war, als sei das Mauerwerk porös, und mit Druck würde
der rätselhafte Atem von der anderen Seite
durchgepreßt.
Das aber war unmöglich! Hinter dem Haus begann die
Felswand…
Marinas Unruhe wuchs.
»Was ist nur los?« fragte sie irritiert, als könne
ihr jemand eine Antwort geben.
Sie klopfte die Wand ab. Es klang nicht hohl.
»Woher kommt nur dieser verdammte Nebel?« Und wie hing
er mit den merkwürdigen Geräuschen zusammen, die sie vorhin
gehört hatte?
Sie bekam es mit der Angst zu tun.
Solange es keine Erklärung für den Vorfall gab,
würden Marina keine zehn Pferde ins Bett bringen. Diese Nacht
konnte sie ohnehin kein Auge mehr schließen und…
»Aaaahhh!«
Plötzlich fiel sie nach vorn und fand keinen Halt mehr.
Da war ein Loch in der Wand, aber – das gab es doch nicht,
daß…
Instinktiv versuchte sie ihren Körper
zurückzuwerfen.
Unmöglich!
Ein furchtbarer Sog riß sie mit, gegen den sie nicht
ankam.
Marina Koller stürzte in eine endlose Tiefe. Ihr
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