Macabros 076: Ruf ins Vergessen
war mit Dr. Chancer verabredet…
Auf den hochbeinigen Barhockern rund um die Theke saßen
sechs Personen.
Vier Männer und zwei Frauen.
Ein Paar stammte aus Indien. Die Frau trug einen violetten Sari,
der mit Goldornamenten bestickt war. Die Schöne unterhielt sich
mit einem hochgewachsenen, gut aussehenden Mann, der einen
cremefarbenen Anzug trug und eine auffallend bunt gemusterte
Krawatte.
Morells Blicke streiften die Anwesenden, die auf den Eintretenden
gar nicht achteten.
Auf dem weichen Teppichboden waren Franks Schritte nicht zu
vernehmen, als er eine Nische ansteuerte, von der aus er sowohl den
Eingang, als auch die Bar überblicken konnte.
Die dunkelhaarige, einsam am Tisch sitzende Frau sah ihm mit
bedauerndem Achselzucken nach.
Frank Morell studierte die Getränkekarte und bestellte beim
Kellner einen Campari-Orange.
Auf den Tisch wurde ihm eine Schale mit Knabbergebäck und
Mandeln gestellt.
Morell saß nicht lange allein.
Wenige Minuten nach seiner Ankunft löste sich ein Mann von
der Bartheke und verließ die ›Kaminstube‹.
Einen Augenblick später kam der Gast mit einer Zeitschrift
wieder zurück. Die hatte er offensichtlich am Kiosk geholt. Es
war ein populärwissenschaftliches Magazin.
Der Mann kehrte nicht wieder auf seinen Platz an der Bar
zurück, wo sein leeres Glas stand, sondern nahm in unmittelbarer
Nachbarschaft Morells Platz.
Für den jungen Deutschen war das Verhalten des fremden Gastes
augenfällig.
Auch Morell kannte diese Zeitschrift. Es war eine amerikanische
Ausgabe.
»Sie sind Mister Morell, nicht wahr?« sagte da der Mann
am Nebentisch, während er ohne aufzublicken eine Seite
aufschlug.
»Ja…«
»Dann ist’s gut. Wenn es Ihnen recht ist, können
wir unser Gespräch beginnen.«
»Aber doch nicht hier?« entgegnete Frank Morell
sofort.
»Natürlich nicht. Wir lernen uns hier kennen, plaudern
ein wenig und nachher verlassen wir gemeinsam die Bar.
Einverstanden?«
»Einverstanden!«
Genauso kam es.
Der Mann, der sich ihm als Dr. Chancer vorgestellt hatte, las noch
einige Augenblicke, kam dann – wie durch Zufall für einen
anderen Beobachter – ganz beiläufig mit Morell ins
Gespräch, und schließlich saßen die beiden
Männer an einem Tisch zusammen und unterhielten sich sehr
lebhaft.
Eine knappe Stunde später verließen sie gemeinsam die
›Kaminstube‹.
Als die Tür, die von einem schweren Samtvorhang links und
rechts flankiert wurde, lautlos hinter ihnen zufiel, wandte der Inder
in dem cremefarbenen Anzug kaum merklich den Kopf.
»Sie sind fort, Siddha«, bemerkte er leise in
bengalischer Sprache, griff in die Innentasche seines Jacketts und
legte einen Geldschein neben sein halbvolles Glas auf die Bartheke.
»Es ist so weit. Das Spiel kann beginnen…«
Die Inderin glitt graziös von ihrem Hocker. Ihr Begleiter
faßte sie zärtlich am Oberarm, nickte den anderen
Gästen an der Theke grüßend zu, und dann gingen beide
gemeinsam durch die gleiche Tür nach draußen wie zuvor Dr.
Chancer und Frank Morell.
»Du, Siddha, gehst auf’s Zimmer und bereitest alles vor.
Wenn wir erfolgreich sein wollen, müssen wir noch heute nacht
alles erledigen…«
»In Ordnung. Du kannst dich auf mich verlassen…«,
sie lächelte ihm zu und schenkte ihm aus ihren Glutaugen einen
vielsagenden Blick.
Als das indische Pärchen aus der Bar kam, sah es gerade noch,
wie Morell und Dr. Chancer im zweiten Aufzug verschwanden.
Die Inder machten sich nicht die Mühe, der Leuchtanzeige
über der Lifttür besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Sie
wußten genau, wo das Zimmer Dr. Chancers sich befand. In der
elften Etage, Zimmernummer 1108.
Daß auch sie im gleichen Stockwerk ein Doppelzimmer belegt
hatten, war kein Zufall.
Ihr Zimmer trug die Nummer 1109.
Das Pärchen benutzte den vorderen Aufzug.
Als er oben ankam, war auf dem breiten, luxuriös
ausgestatteten Korridor weit und breit keine Spur von den beiden
Männern zu sehen.
Die junge Inderin, die der Mann mit Siddha angesprochen hatte,
suchte sofort das gemeinsame Apartment auf, während ihr
Begleiter einige Türen weiterging und vor einer stehen blieb, an
der sich ein rotes Schild mit weißer Aufschrift befand.
›Kein Zutritt. Privat‹
Der Hotelgast kümmerte sich nicht darum. Mit einem Blick in
die Runde vergewisserte er sich, daß niemand in der Nähe
war, der ihn beobachtete. Dann drückte er die Klinke herab und
huschte in die dunkle Kammer, von der aus ein verwinkelter Korridor
zu einem kleinen,
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