Macabros 117: Amoklauf der Verlorenen
sich
verabschiedete.
»Eigentlich beginnt morgen früh mein Urlaub. Das war
mein letzter Tag heute im Büro. Warum fragen Sie danach,
Kommissar?«
»Falls noch Fragen im Zusammenhang mit dem Verschwinden
Philip Marais’ und dem Tod von Mademoiselle Lucille auftauchen
sollten«, erwiderte er nachdenklich. »Es kann sein,
daß sich in den nächsten Tagen etwas tut… Wollten Sie
wegfahren?«
»An kein bestimmtes Ziel. Mit einem Freund wollte ich eine
Motorradtour unternehmen. Mal in die Provence, an die Cote
d’Azur oder in die Bretagne, je nach Lust und Laune.«
»Wenn Sie merken, daß Ihnen die Decke auf den Kopf
fällt, und Sie meinen, Sie müssen raus, dann tun Sie
es«, sagte Legrait verständnisvoll. »Auf alle
Fälle werde ich bei Gelegenheit wieder von mir hören lassen
– wenn es sich ergeben sollte. Viele Fragen blieben
unbeantwortet… noch eine letzte, Mademoiselle. Befaßte
sich Monsieur Marais mit Okkultismus, Magie oder Zauberei?«
»Wie kommen Sie denn darauf?«
»Eine merkwürdige Frage, ich weiß«,
entgegnete er ausweichend. »Aber die Sammlung afrikanischer
Kultgegenstände in seinem Büro läßt darauf
schließen, daß er sich nicht nur oberflächlich mit
diesen Dingen umgab, um sie als Zierde zu besitzen.«
»Mir ist in dieser Beziehung nichts bekannt.«
»War Philip Marais in der letzten Zeit anders als sonst? Ist
Ihnen schon mal - eine Veränderung seiner Stimme
aufgefallen?«
»Bis auf heute abend – nicht…«
»Dann will ich Sie nicht länger aufhalten, Mademoiselle.
Bon soir!«
»Bon soir, Kommissar«, sagte sie leise und abwesend.
Dann war Nicole Sengor allein in der Wohnung, und mit dem
Alleinsein – kamen die quälenden Gedanken.
Die Ereignisse des Abends stiegen machtvoll wieder in ihr auf. Die
Bilder, die sie verdrängt zu haben glaubte, nahmen wieder Formen
und Gestalt an.
Die furchteinflößende Fratze des Mannes hinter dem
Schreibtisch. Nichts Menschliches mehr hatte er an sich
gehabt…
Der bestialische Mord an Lucille…
Wie war das alles geschehen?
Sie zündete sich eine Zigarette an und öffnete weit das
Fenster, um die kühle Nachtluft zu spüren, die ihr
erhitztes Gesicht angenehm fächelte.
Träumte sie – oder waren die letzten Stunden
Wirklichkeit gewesen?
Nicole kniff sich in die Wange und spürte den brennenden
Schmerz.
Also war sie wach.
Ihre Gedanken aber wirbelten noch immer wirr durcheinander, sie
war unfähig zu klarem Denken und erst recht im Erkennen dieser
Ausnahmesituation, die jeder Vernunft spottete.
Die junge Frau atmete tief durch und fühlte die Unruhe, die
sich wieder stärker in ihr bemerkbar machte.
Sie wollte wachbleiben und sehnte sich doch danach, tief und
erholsam zu schlafen.
Der Arzt hatte ihr ein Röhrchen mit Beruhigungstabletten
gegeben, von denen sie zwei nehmen sollte, wenn sie spürte,
daß sie nervös wurde.
Sie starrte gedankenversunken über die Dächer, die unter
ihr lagen.
Das Lichtermeer von Paris breitete sich aus.
Nicole hörte den Straßenlärm, das Brummen der
Motoren, das Hupen…
Alles war wie immer.
So schien es ihr.
Sie konnte den Kopf nicht so weit drehen, um auf das Dach, unter
dem sie wohnte, einen Blick zu werfen.
Hinter dem Schornstein bewegte sich ein grotesker,
menschengroßer Schatten.
Eine unheimliche Gestalt kauerte dort, konnte vom Dach nach unten
sehen und nahm den Lichtschein und die silhouettengleiche Figur
Nicole Sengors am Fenster wahr.
Der Mann trug einen dunklen Anzug und eine dezent gemusterte
Krawatte.
Es war die Kleidung, die der verschwundene Philip Marais zuletzt
getragen hatte.
Aber der Mensch, der in dieser Kleidung steckte, hatte keine
Ähnlichkeit mehr mit dem Anwalt.
Sein Gesicht glich dem eines leibhaftigen Dämons. Zwei
Stoßzähne ragten überlang aus dem linken und dem
rechten Mundwinkel.
Die Augen waren groß wie Untertassen, tief eingefurcht waren
die Gesichtszüge, die Haare struppig.
Die Hände – waren keine menschlichen Hände mehr,
sondern schreckliche Klauen mit gebogenen Krallen, wie urwelthafte
Saurier und Greifvögel sie hatten.
Die Arme waren angewachsen und Flughäute, die sich wie die
gerippten braunen und ausgezackten Flügel von
überdimensionalen Fledermäusen über den Rücken
des Dämonischen spannten.
Der schreckliche Mund verzog sich zu widerlichem Grinsen.
Die unheimliche Gestalt auf dem Dach verhielt sich still,
abwartend und lauernd.
Das Geschöpf, das mal Philip Marais gewesen war, wußte,
daß Nicole Sengors Leben nur noch
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