Macho Man: Roman (German Edition)
überhaupt lesen zu können), und schließlich mit letzter Anstrengung die Seite so umlegen, dass es nicht allzu viele Falten wirft – denn genau dieser Fehler kann bei der wieder zusammengefalteten Zeitung dazu führen, dass man die Hälfte des Artikels nicht lesen kann.
Das Umblättern ist auch unfassbar laut; es hört sich immer an, als würde gerade mitten im Wohnzimmer ein Altpapiercontainer geleert. Als ich Star Wars Episode 6 im Fernsehen gesehen habe, hat mein Vater ausgerechnet kurz vor Schluss umgeblättert – vom Verwandtschaftsverhältnis zwischen Darth Vader und Luke Skywalker habe ich erst Jahre später erfahren.
Und natürlich kann man die Zeit im Freien überhaupt nicht lesen, weil schon Windstärke 1 ausreicht, um das Umblättern gänzlich zu verhindern. Ab Windstärke 6 könnte man einen Intellektuellen, der sich an der Zeit festklammert, problemlos als Drachen steigen lassen.
Mein Vater hat mal versucht, am Strand von Lanzarote die Zeit zu lesen: Er hat ein System mit acht großen Steinen entwickelt, die er zum Umblättern nacheinander hochheben musste. Nachdem ihm mehrere Seiten gerissen waren, sich etwa drei Kilo Sand in der Zeitung verfangen hatten und ein Labrador auf einen Artikel von Hans Magnus Enzensberger gepinkelt hatte, gab mein Vater auf... Nicht dass er dann das Strandleben genossen hätte. Er hat im Hotel weitergelesen.
Endlich hat das Rascheln aufgehört, und mein Vater kommt zum Telefon. Ein schnurloses Telefon hätte dieses Dilemma des Zeitung-Zusammenfaltens-und-zum-Telefon-kommen-Müssens längst gelöst, aber meine Mutter kann sich seit 30 Jahren nicht vom guten alten Wählscheibentelefon trennen.
»Hallo, Daniel, wie geht's dir?«
»Gut, und dir?«
»Auch gut. Wir waren gerade in einem Flötenkonzert.«
»Ja. Ich hab's gehört.«
»Querflöte. Sie hat ein Werk von Stockhausen transponiert und dazu Zitate aus der Mao-Bibel gebrüllt.«
»Ich weiß. Und sie saß in Zellophanfolie eingewickelt auf einem moosbewachsenen elektrischen Stuhl.«
»Ach, hast du sie auch schon gesehen?«
»Nein. Erika hat's erzählt.«
»Ach so. Unheimlich interessant. Sie hieß Wong Lu Hung. Oder Wung Lo Hang. Oder so.«
Nachdem mein Vater mir einige Minuten lang die Metaphorik des Eingewickeltseins in Zellophanfolie auf einem moosbewachsenen elektrischen Stuhl erklärt hat, konfrontiere ich ihn mit der Tatsache, dass ich Aylin heiraten will und dass er um Erlaubnis fragen soll. Er erkennt die Situation messerscharf als »multikulturelles Paradoxon«, das letzten Endes in der Frage münde, ob man kulturell bedingte antidemokratische Haltungen von Ausländern in Deutschland tolerieren soll oder nicht. Für ihn persönlich bestehe die Problematik hauptsächlich darin, dass er, indem er Aylins Eltern um Erlaubnis fragen würde, indirekt das Recht eines erwachsenen Paares auf die freie Wahl des Ehepartners in Frage stellen würde.
»Aber Rigobert! Das ist für Aylin wirklich kein Problem.«
»Das mag sein. Aber mir geht es auch in erster Linie um deine Haltung.«
»Hä?«
»Nun, zunächst einmal gehört es zu den Grundrechten, dass sich ein erwachsener mündiger Bürger in einem Rechtsstaat seinen Ehepartner frei wählen darf. Wenn Aylin nun aus eigenem Willen aufgrund kultureller Traditionen entscheidet, dieses Recht an ihre Eltern abzutreten, dann muss ich das natürlich tolerieren. Aber was ist mit dir?«
»Das ist eine reine Formsache. Frag einfach ›Darf Daniel Aylin heiraten?‹, dann sagen sie Ja, und dann umarmen sich alle und Feierabend.«
»Verstehst du denn nicht? Wenn ich für dich frage, bedeutet das doch, dass du dein Selbstbestimmungsrecht an mich abtrittst.«
»Ja. Genau das will ich auch. Okay?!«
»Nein, das ist überhaupt nicht okay. Ich habe dir doch nicht als Zehnjährigem die Biografie von Martin Luther King vorgelesen, damit du jetzt deine Bürgerrechte ins Klo spülst!«
»Rigobert, ich verspreche dir, dass ich meine Bürgerrechte danach wie gewohnt wahrnehmen werde. Ich werde wählen gehen, ich werde jegliches Unrecht anprangern, und ich werde mich bei IKEA beschweren, wenn zu wenig Preiselbeersoße auf den Köttbullar ist. Aber nur dieses einzige Mal...«
»Ich bin sicher, ich verstoße damit gegen das Grundgesetz.«
»Rigobert, bitte...«
»Artikel 2, Paragraf 1: ›Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz
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