Macht (German Edition)
Maße von denen traditioneller Macht. Und wo traditionelle Macht besteht, hängt der Charakter des Regimes in beinahe unbegrenztem Ausmaß von seinem Gefühl der Sicherheit oder Unsicherheit ab.
Nackte Gewalt ist gewöhnlich von militärischer Art und kann entweder das Gesicht innerer Tyrannei oder äußerer Eroberung annehmen. Ihre Bedeutung, besonders im zweiten Fall, ist allerdings sehr groß – größer, glaube ich, als manche moderne »wissenschaftliche« Historiker zugeben wöllen. Alexander der Große und Julius Cäsar änderten mit ihren Schlachten den ganzen Lauf der Geschichte. Was den ersteren betrifft, so würden ohne ihn die Evangelien nicht in griechischer Sprache geschrieben und das Christentum nicht im ganzen römischen Reich gepredigt worden sein. Ohne den anderen sprächen die Franzosen nicht eine vom Lateinischen kommende Sprache, und die katholische Kirche wäre kaum in Erscheinung getreten. Die militärische Überlegenheit des weißen Mannes über den Indianer ist ein noch unwiderlegbareres Beispiel von der Macht des Schwertes. Eroberung durch Waffengewalt hat mit der Ausbreitung der Zivilisation mehr zu tun gehabt als irgendeine andere Handlung. Nichtsdestoweniger ist die militärische Macht in den meisten Fällen auf eine andere Machtform, wie etwa Reichtum oder technische Kenntnis oder Fanatismus, gegründet. Ich behaupte nicht, dass dies immer der Fall ist; zum Beispiel war im spanischen Erbfolgekrieg Marlboroughs Genius für den Ausgang entscheidend. Aber das muss man als Ausnahme von der allgemeinen Regel betrachten.
Wenn eine traditionelle Machtform ihr Ende findet, kann ihr unter Umständen nicht nackte Gewalt, sondern eine revolutionäre Autorität folgen, die sich auf die willige Zustimmung der Mehrheit oder einer großen Minderheit der Bevölkerung stützt. Das traf für Amerika zur Zeit des Unabhängigkeitskrieges zu. Washingtons Autorität hatte nichts von nackter Gewalt. Ähnlich wurden während der Reformation neue Kirchen gegründet, um den Platz der katholischen Kirche einzunehmen, und ihr Erfolg leitete sich weit mehr von der Zustimmung ab, die sie fanden, als von Gewalt. Wenn eine revolutionäre Autorität ihre Herrschaft ohne größere Anwendung nackter Gewalt aufrichten soll, so braucht sie eine viel kräftigere und aktivere Unterstützung durch das Volk als eine traditionelle Autorität. Als im Jahre 1911 die chinesische Republik proklamiert wurde, dekretierten Leute, die eine ausländische Erziehung genossen hatten, eine parlamentarische Verfassung, aber die Massen blieben apathisch, und das Regime entwickelte sich schnell zu einem solchen nackter Gewalt unter kriegführenden Tuchuns (Militärgouverneuren). Eine Einheit, wie sie später von der Kuomintang hergestellt wurde, hing vom Nationalismus, nicht vom Parlamentarismus ab. Das gleiche ereignete sich häufig in Lateinamerika. In allen diesen Fällen wäre die Autorität des Parlaments revolutionär gewesen, wenn es ihm gelungen wäre, sich eine ausreichende Unterstützung im Volke zu sichern; aber die rein militärische Gewalt, die tatsächlich Sieger blieb, war nackt.
Die Unterschiede zwischen traditioneller, revolutionärer und nackter Gewalt sind psychologischer Natur. Ich nenne Macht nicht einfach traditionell, weil sie überlieferte Formen aufweist; es muss ihr auch Respekt entgegengebracht werden, der vom Brauch herstammt. Wenn dieser Respekt verfällt, entwickelt sich traditionelle Macht allmählich in nackte Gewalt. Diesen Prozess konnte man in Russland beobachten, in dem allmählichen Wachstum der revolutionären Bewegung bis zum Augenblick ihres Sieges im Jahre 1917.
Ich nenne Macht revolutionär, wenn sie von einer größeren Gruppe abhängt, die durch einen neuen Glauben, durch ein neues Programm oder eine neue Gesinnung zusammengeschlossen ist, wie etwa Protestantismus, Kommunismus oder den Wunsch nach nationaler Unabhängigkeit. Ich nenne Macht nackt, wenn sie lediglich aus dem Machttrieb von Personen und Gruppen hervorgeht und von ihren Bürgern nur Unterwerfung durch Furcht, nicht aber aktive Mitarbeit erlangt. Man wird sehen, dass die Nacktheit der Macht Abstufungen besitzt. In einem demokratischen Land ist die Regierungsgewalt nicht nackt in Bezug auf oppositionelle politische Parteien, sondern in Bezug auf einen überzeugten Anarchisten. Ähnlich ist dort, wo religiöse Verfolgung besteht, die Macht der Kirche nackt gegenüber Ketzern, nicht aber gläubigen Sündern gegenüber.
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