Macht (German Edition)
Teilung unseres Gegenstandes ist die zwischen der Macht von Organisationen und der Macht von Personen. Die Art und Weise, wie eine Organisation sich Macht aneignet, ist eine Sache, die Art und Weise, wie ein Individuum sich innerhalb einer Organisation Macht erwirbt, eine ganz andere Sache. Die beiden sind natürlich miteinander verknüpft: Wenn man Ministerpräsident werden will, muss man in seiner Partei Macht erwerben, und diese Partei muss innerhalb der Nation Macht erhalten. Aber wenn man vor dem Verfall des Prinzips der Erblichkeit gelebt hätte, hätte man der Erbe eines Königs sein müssen, um die politische Kontrolle über eine Nation zu bekommen; das hätte einen allerdings nicht befähigt, andere Nationen zu erobern, denn dazu braucht man Eigenschaften, die Königssöhnen oftmals fehlen. Gegenwärtig gibt es eine ähnliche Situation noch auf wirtschaftlichem Gebiet, wo die Plutokratie in hohem Maße erblich ist. Betrachten wir die zweihundert plutokratischen Familien in Frankreich, gegen die die französischen Sozialisten arbeiten. Plutokratische Dynastien haben nicht dieselbe Beständigkeit, wie sie die regierenden einst besaßen, weil sie nicht vermochten, der Doktrin göttlichen Rechts verbreitete Annahme zu verschaffen. Kein Mensch hält einen aufsteigenden Finanzmagnaten für gottlos, weil er jemanden auspowert, der der Sohn seines Vaters ist, vorausgesetzt, dass dies dem üblichen Brauch gemäß geschieht und ohne die Einführung störender Erneuerungen.
Verschiedene Organisationstypen bringen verschiedene Typen von Persönlichkeiten an die Spitze, und das gleiche ist bei verschiedenen Gesellschaftszuständen der Fall. Ein Zeitalter trägt in der Geschichte die Züge seiner hervorragenden Persönlichkeiten und leitet seinen angeblichen Charakter von den Eigenschaften dieser Menschen her. Da die zur Auserlesenheit erforderlichen Eigenschaften wechseln, wechseln auch die hervorragenden Männer. Man kann annehmen, dass Lenin ähnliche Menschen im zwölften Jahrhundert lebten und dass es gegenwärtig Menschen in der Art von Richard Löwenherz gibt; die Geschichte aber kennt sie nicht. Wir wollen für einen Moment die Arten von Persönlichkeiten betrachten, die von verschiedenen Machtformen hervorgebracht werden.
Erbliche Macht hat unseren Begriff des »gentleman« geprägt. Das ist die etwas entartete Form einer Vorstellung, die eine lange Geschichte hinter sich hat, von den magischen Kräften des Stammeshäuptlings angefangen, über den göttlichen Charakter der Könige zum Rittertum und dem blaublütigen Aristokraten. Die in der erblichen Macht bewunderten Qualitäten sind das Resultat von Muße und fragloser Überlegenheit. Wo Macht eher aristokratisch als monarchisch ist, schließen die guten Manieren höfliches Auftreten gegenüber Gleichgestellten ein wie freundliche Selbstbehauptung gegenüber Niederen. Welche Konzeption guter Manieren aber auch gültig sein mag – nur dort, wo Macht erblich ist oder noch kürzlich war, wird man Menschen nach ihrem Benehmen beurteilen. Der Bourgeois gentilhomme ist nur lächerlich, wenn er in eine Gesellschaft von Männern und Frauen gerät, die niemals besseres zu tun hatten, als gesellschaftliche Nettigkeiten zu studieren. Was in der Bewunderung des »gentleman« heute noch überlebt, hängt von erblichem Reichtum ab und muss schnell verschwinden, wenn wirtschaftliche Macht so gut wie politische Macht aufhört, vom Vater auf den Sohn überzugehen.
Ein ganz anderer Charakter tritt zutage, wenn Macht durch Studium oder Weisheit erworben wird, sei sie nun wirklich oder angenommen. Zwei Hauptbeispiele für diese Machtform sind das aus der Überlieferung bekannte China und die katholische Kirche. In der Moderne ist diese Form seltener zu finden als in den meisten Zeitabschnitten der Vergangenheit; von der Kirche abgesehen, bleibt in England wenig von diesem Machttypus übrig. Merkwürdig genug, dass die Macht dessen, was man Studium nennt, in wilden Gemeinschaften am stärksten ist, während sie sich in dem Grade ständig verringert, in dem die Zivilisation zunimmt. Wenn ich »Studium« sage, so schließe ich selbstverständlich anerkanntes Lernen, wie das der Magier und Medizinmänner, ein. Zwanzig Jahre Studium waren erforderlich, um den Grad eines Doktors an der Universität von Lhasa zu erwerben, einen Grad, der für alle höheren Posten, ausgenommen den des Dalai Lama, notwendige Voraussetzung ist. Dieser Zustand ähnelt stark dem Zustand Europas im Jahre
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