Macht (German Edition)
hatte, hatte er nicht vielleicht genausogut andere Rechte? Gab es nicht festlegbare Grenzen für die rechtmäßigen Handlungen von Regierungen gegenüber ihren Bürgern? Daher die Doktrin der Menschenrechte, die von den besiegten Jüngern des Cromwell über den Atlantik getragen, von Jefferson in die amerikanische Verfassung aufgenommen und durch die französische Revolution nach Europa zurückgebracht worden war.
3. Die französische Revolution und der Nationalismus. Die westliche Welt war seit der Reformation bis zum Jahre 1848 in ständiger Bewegung, die man die Revolution der Menschenrechte nennen könnte. 1848 begann die Bewegung sich östlich des Rheins in Nationalismus zu verwandeln. In Frankreich hatte die Vereinigung seit 1792 bestanden, in England seit jeher, in, Amerika seit 1776. Der nationalistische Aspekt der Bewegung hat allmählich den Aspekt der Menschenrechte verdrängt, aber dieser letztere war zu Anfang der bedeutendere.
Es ist heute üblich, die Menschenrechte verächtlich als ein Stück flacher Rhetorik des 18. Jahrhunderts abzutun. Allerdings ist die Lehre, philosophisch gesehen, nicht zu verteidigen; aber vom historischen und pragmatischen Standpunkt aus war sie von Nutzen, und wir erfreuen uns heute vieler Freiheiten, die sie herbeizuführen half. Ein Anhänger Benthams, für den die abstrakte Konzeption von »Rechten« unannehmbar ist, könnte die gleiche Doktrin für praktische Zwecke mit folgenden Worten umreißen: »Das allgemeine Wohl wird gesteigert, wenn eine gewisse Sphäre gegeben ist, innerhalb welcher jedes Individuum frei nach seinem Willen handeln kann, ohne dass eine äußere Autorität dabei eingreift.« Auch das Justizwesen war eine Angelegenheit, die die Advokaten der Menschenrechte interessierte; sie forderten, dass kein Mensch des Lebens oder der Freiheit ohne ordentlichen Prozess beraubt werden dürfe. Diese Meinung, ob sie nun richtig oder falsch ist, schließt keine philosophische Absurdität in sich.
Offenbar ist die Doktrin, nach Ursprung und Gefühl, regierungsfeindlich. Der Untertan einer despotischen Regierung fordert, er möge Freiheit haben, seine Religion nach seinem Willen wählen zu dürfen, seinem Beruf auf gesetzliche Weise ohne bürokratische Störung nachzugehen, heiraten zu dürfen, wen er liebt, und sich gegen fremde Beherrschung auflehnen zu können. Wo Regierungsentscheidungen notwendig sind, sollten sie – verlangt der Vorkämpfer der Menschenrechte – Entscheidungen der Mehrheit ihrer Vertreter und nicht einer parteiischen und lediglich traditionellen Autorität wie der von Königen und Priestern sein. Dieser Standpunkt setzte sich allmählich in der ganzen zivilisierten Welt durch und schuf die besondere Mentalität des Liberalismus, der, selbst wenn er an der Macht ist, einen gewissen Verdacht gegen die Regierungsaktion behält.
Der Individualismus hat offenbar logische und historische Verbindungen zum Protestantismus, der in der theologischen Sphäre seine Lehren behauptete, wenn er sie auch oft, sobald er die Macht
ergriff, aufgab. Durch den Protestantismus gibt es eine Verbindung zum frühen Christentum und seiner Feindseligkeit gegenüber dem heidnischen Staat. Eine weitere tiefe Beziehung zum Christentum stellt sein Interesse an der Seele des Individuums dar. Gemäß der christlichen Ethik kann keine Staatsnotwendigkeit die Behörden rechtfertigen, einen Menschen zu einer sündhaften Handlung zu zwingen. Die Kirche hält jede Heirat für null und nichtig, wenn einer der beiden Teile einem Zwang ausgesetzt ist. Selbst was die Verfolgung anbelangt, ist die Theorie noch individualistisch: Der Zweck der Verfolgung besteht darin, den einzelnen Ketzer vielmehr zu Widerruf und Reue zu bringen, als der Gemeinschaft einen Vorteil zu verschaffen. Kants Prinzip, dass jeder Mensch ein Zweck in sich selbst ist, ist von der christlichen Lehre abgeleitet. In der katholischen Kirche hat eine lange Entwicklung der Macht etwas den Individualismus des frühen Christentums verdunkelt; aber der Protestantismus, besonders in seinen extremeren Formen, belebte ihn wieder und verwendete ihn in seiner Theorie der Regierung.
Wenn ein revolutionärer und ein traditioneller Glaube um den Vorrang streiten, wie es in der französischen Revolution geschah, ist die Macht der Sieger über die Besiegten nackte Gewalt. Die revolutionären und napoleonischen Heere stellten eine Verbindung der propagandistischen Stärke eines neuen Glaubens mit nackter Gewalt auf
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