Macht (German Edition)
höherer Stufe dar, als das bisher in Europa zu sehen gewesen war, und ihre Wirkung auf die Einbildungskraft des Kontinents hat bis zum heutigen Tage angehalten. Überall wurde die traditionelle Macht von den Jakobinern in Frage gestellt, und es waren Napoleons Armeen, die dieses Infragestellen wirksam werden ließen. Napoleons Gegner verteidigten alte Missbräuche und errichteten, als sie endlich siegten, ein reaktionäres System. Unter ihrer dumpfen Unterdrückung wurden Napoleons Gewaltsamkeit und Erpressertum vergessen; die Kirchhofsruhe des großen Friedens ließ den Krieg herrlich und die Bajonette als Träger der Freiheit erscheinen. In den Jahren der Heiligen Allianz entwickelte sich ein byronhafter Kultus der Gewalt, der allmählich die alltäglichen Gedanken der Menschen zu formen begann. All das kann man bis auf die nackte Gewalt Napoleons und ihre Verbindung mit dem emanzipierenden Kriegsruf der Revolution zurückverfolgen. Hitler und Mussolini schulden nicht weniger als Stalin ihren Erfolg Robespierre und Napoleon.
Revolutionäre Macht ist, wie der Fall Napoleons zeigt, sehr geeignet, in nackte Gewalt zu entarten. Der Zusammenprall rivalisierender Fanatismen, ob bei fremder Eroberung, religiöser Verfolgung oder im Klassenkampf, unterscheidet sich zwar von nackter Gewalt durch den Umstand, dass eine Gruppe, und nicht ein Individuum, zur Macht strebt und dass sie die Macht nicht um ihretwillen, sondern um eines Glaubens willen sucht. Da aber Macht das Mittel ist und im Laufe eines langen Konflikts das eigentliche Endziel leicht vergessen wird, gibt es, besonders wenn der Kampf lang und hartnäckig ist, eine Tendenz zur allmählichen Umformung des Fanatismus in die einfache Verfolgung des Sieges. Der Unterschied zwischen revolutionärer und nackter Gewalt ist daher oft geringer, als es beim ersten Blick aussieht. In Lateinamerika wurde der Aufstand gegen Spanien zunächst von Liberalen und Demokraten geleitet, er endete aber in den meisten Fällen mit der Errichtung einer Reihe von unsicheren Militärdiktaturen, die von Meutereien abgelöst wurden. Nur wenn der revolutionäre Glaube stark und verbreitet ist und der Sieg nicht zu lange hinausgezögert wird, kann die Gewohnheit des Zusammenwirkens den Stoß überdauern, der in der Revolution beschlossen ist, und die neue Regierung befähigen, vielmehr auf Grund von Zustimmung als lediglich auf militärischer Gewalt zu beruhen. Eine Regierung ohne psychologische Autorität muss eine Tyrannei sein.
4. Die russische Revolution. Es ist noch zu früh, die Bedeutung der russischen Revolution für die Weltgeschichte zu beurteilen; wir können, von unserem Standpunkt aus, erst von einigen ihrer Aspekte sprechen. Dem frühen Christentum gleich predigt sie Lehren, die international oder sogar antinational sind; gleich dem Islam, aber ungleich dem Christentum ist sie wesentlich politisch. Der einzige Teil ihres Glaubenssystems allerdings, der sich bisher als wirksam erwiesen hat, ist ihre Kampfansage an den Liberalismus. Bis November 1917 war der Liberalismus nur von Reaktionären bekämpft worden; wie alle Fortschrittlichen waren auch die Marxisten für Demokratie, freie Rede, freie Presse und alles übrige des liberalen politischen Apparats eingetreten. Als die Sowjetregierung die Macht ergriff, kehrte sie zu den Lehren der katholischen Kirche in ihrer großen Zeit zurück: Es sei die Aufgabe der Behörden, die Wahrheit durch Schulung und die Unterdrückung aller gegnerischen Lehren zu verbreiten. Das schloss natürlich die Errichtung einer undemokratischen Diktatur ein, deren Sicherheit von der Roten Armee abhängt. Neu war die Verschmelzung von politischer und wirtschaftlicher Macht, die ein ungeheures Anwachsen der Regierungskontrolle ermöglichte.
Der internationale Bestandteil der kommunistischen Doktrin hat sich als unwirksam erwiesen, aber die Verwerfung des Liberalismus hatte einen ungewöhnlichen Erfolg. Vom Rhein bis zum Stillen Ozean werden ihre Hauptlehren fast überall abgelehnt; Italien zuerst und später Deutschland eigneten sich die politische Technik der Bolschewisten an; selbst in den Ländern, die demokratisch bleiben, hat die liberale Überzeugung ihr Feuer eingebüßt. Die Liberalen sind zum Beispiel der Ansicht, dass man, wenn öffentliche Gebäude durch Brandstifter zerstört werden, versuchen solle, die wirklichen Schuldigen mittels Polizei und Gerichtshof zu entdecken; aber der modern gesinnte Mensch möchte wie Nero die Schuld mittels
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