Macht (German Edition)
nur die absolute Schnelligkeit in der Nachrichtenübermittlung ist wichtig, sondern auch, und noch mehr, die Tatsache, dass Botschaften schneller reisen als Menschen. Bis vor wenig mehr als hundert Jahren konnten weder Botschaften noch andere Dinge schneller sein als ein Pferd. Ein Straßenräuber konnte in die Nachbarstadt entkommen, bevor dort die Nachricht von seinem Verbrechen bekannt wurde. Heutzutage ist Flucht schwieriger, seitdem Nachrichten zuerst ankommen. In Kriegszeiten werden alle Mittel schneller Verbindung von Regierungen kontrolliert, was ihre Macht außerordentlich steigert.
Die moderne Technik hat nicht allein durch die Schnelligkeit der Nachrichtenübermittlung, sondern auch durch Eisenbahnen, Telegraph, motorisierten Verkehr und Regierungspropaganda die Stabilität großer Reiche gegenüber der in früheren Zeiten sehr erhöht. Persische Satrapen und römische Prokonsuln besaßen genug Unabhängigkeit, um sich leicht empören zu können. Alexanders Reich zerfiel nach seinem Tode. Die Reiche von Attila und Dschingis-Khan waren von kurzer Dauer; und die europäischen Nationen verloren die meisten ihrer Besitzungen in der Neuen Welt. Aber mit der modernen Technik werden die meisten Reiche ziemlich sicher, außer gegen äußeren Angriff, und Revolutionen sind nur nach Niederlagen im Krieg wahrscheinlich.
Technische Ursachen, muss übrigens bemerkt werden, haben nicht nur in der Richtung einer Erleichterung der Ausübung von Staatsmacht über Entfernungen hin gewirkt; in mancher Beziehung haben sie eine gegenteilige Wirkung gehabt. Hannibals Armee bestand viele Jahre hindurch, ohne ihre Verbindungslinien offen zu halten, während eine große moderne Armee unter solchen Bedingungen nicht länger als zwei oder drei Tage aushalten könnte. Solange Flotten von Segeln abhingen, erstreckte sich ihr Wirkungskreis über die Welt; nun, da sie oft Brennstoff aufnehmen müssen, sind sie nicht fähig, weit von einer Basis entfernt zu operieren. Wenn in Nelsons Tagen die Engländer das Meer in einer Gegend beherrschten, beherrschten sie es überall; heute, wenn sie auch ihre Heimatgewässer beherrschen mögen, sind sie schwach im Fernen Osten und haben zur Ostsee keinen Zutritt.
Nichtsdestoweniger heißt die große Regel, dass es heutzutage leichter als früher ist, Macht über eine Entfernung vom Zentrum auszuüben. Das bewirkt, dass sich die Intensität des Wettbewerbs zwischen Staaten verstärkt und der Sieg vollkommener wird, da die sich ergebende Größenausdehnung die Leistungsfähigkeit nicht zu schmälern braucht. Ein Weltstaat ist heute eine technische Möglichkeit und könnte in einem wirklich ernsthaften Weltkrieg vom Sieger oder noch eher vom mächtigsten Neutralen errichtet werden.
Was Machtdichte oder, wie man es auch nennen kann, Organisationsintensität angeht, so sind die auftauchenden Fragen verwickelt und von großer Bedeutung. In jedem zivilisierten Land ist der Staat heute viel aktiver als in früheren Zeiten; in Russland, Deutschland und Italien greift er in fast alle menschlichen Belange ein. Da die Menschen machtliebend sind und da im Durchschnitt jene, die an die Macht kommen, sie noch mehr lieben, darf man von den Männern an der Spitze in normalen Verhältnissen erwarten, dass sie eine Erweiterung der inneren Aktivität des Staates ebenso sehr wünschen wie eine Erweiterung seines Territoriums. Da man gute Gründe hat, die Staatsfunktionen zu vermehren, wird man auf der Seite der Durchschnittsbürger dazu neigen, den Wünschen der Regierung in dieser Beziehung zuzustimmen. Trotzdem ist ein gewisser Wille zur Unabhängigkeit vorhanden, der an einem gewissen Punkt der Entwicklung stark genug werden kann, um wenigstens für eine Zeit ein weiteres Anwachsen der Intensität der Organisation zu verhindern. Daraus folgt, dass Unabhängigkeitsstreben bei den Bürgern und Machtliebe bei den Beamten, wenn die Organisation eine bestimmte Intensität erreicht, sich zumindest zeitweise die Waage halten werden, so dass beim Anwachsen der Organisation Unabhängigkeitswille zur stärkeren Kraft und bei ihrer Verminderung amtliche Machtliebe zur stärkeren Kraft würde.
Unabhängigkeitswille ist in den meisten Fällen keine abstrakte Ablehnung äußerer Eingriffe, sondern Abneigung gegen eine Form von Kontrolle, die die Regierung als wünschenswert ansieht – Alkoholverbot, Wehrpflicht, religiöser Konformismus und was es sonst noch gibt. Derartige Gefühle können manchmal allmählich durch
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