Macht (German Edition)
Beispiel für eine Begrenzung, die man auch in Parteipolitik und Religion feststellen kann. Ich habe versucht, in diesem Kapitel Organisationen unabhängig von ihrem Zweck darzustellen. Ich halte es für wichtig zu bemerken, dass das bis zu einem gewissen Punkt möglich ist; aber es ist natürlich nur bis zu diesem Punkt möglich. Darüber hinaus muss man die Leidenschaft in Erwägung ziehen, auf die die Organisation hinzielt.
Die Begierden eines Individuums können in Gruppen zusammengefasst werden, von denen jede das darstellt, was Psychologen ein »Gefühl« nennen. Es gibt – um Gefühle von politischer Bedeutung zu nennen – Heimatliebe, Familienliebe, Vaterlandsliebe, Machtliebe, Vergnügungssucht; ebenso gibt es Gefühle der Abneigung, wie Furcht vor Schmerz, Trägheit, Fremdenhass, Hass gegen fremde Anschauungen und so weiter. Die Gefühle eines Menschen sind in jedem gegebenen Moment das komplizierte Ergebnis seiner Veranlagung, seiner Vergangenheit und seiner gegenwärtigen Lage. Jedes Gefühl, insofern es geeignet ist, Menschen im Zusammenwirken in höherem Grade als einzeln Vorteile zu verschaffen, wird bei günstiger Gelegenheit eine oder mehrere Organisationen entwickeln, die seiner Befriedigung dienen sollen. Betrachten wir zum Beispiel den Familiensinn. Er hat Organisationen für Wohnungsbau, Erziehung und Lebensversicherung hervorgebracht oder hervorbringen helfen, in denen die Interessen verschiedener Familien übereinstimmen. Er hat aber auch, in der Vergangenheit häufiger als heutzutage, Organisationen geschaffen, die die Interessen einer Familie auf Kosten von anderen vertreten, wie das Beispiel der Montagues und Capulets zeigt. Der dynastische Staat war eine derartige Organisation. Aristokratien waren Organisationen einiger Familien zur Sicherung von Privilegien auf Kosten der übrigen Gemeinschaft. Solche Organisationen beinhalten stets mehr oder weniger Gefühle der Abneigung: Furcht, Hass, Verachtung usw. Wo solche Gefühle stark empfunden werden, sind sie ein Hindernis für das Wachstum von Organisationen.
Die Theologie liefert Beispiele für diese Beschränkung. Mit der Ausnahme von einigen Jahrhunderten gegen Beginn der christlichen Ära wollten die Juden die Andersgläubigen nicht bekehren; sie begnügten sich mit dem Gefühl der Überlegenheit, das sie aus der Tatsache des Auserwähltseins ableiteten. Der Shintoismus, der lehrt, dass Japan vor der übrigen Welt geschaffen wurde, richtet sich nicht an jene, die keine Japaner sind. Jeder kennt die Geschichte der Auld Lichts, die man bei ihrer Ankunft im Himmel davor bewahrt, herauszufinden, dass es dort noch andere Leute gibt, weil man ihnen die himmlische Freude nicht verderben möchte. Ein ähnliches Gefühl kann eine verhängnisvollere Form annehmen: Verfolgung kann für den Verfolger so vergnüglich sein, dass er eine Welt ohne Ketzer unerträglich langweilig finden würde. Da Hitler und Mussolini lehren, dass der Krieg die edelste der menschlichen Beschäftigungen sei, könnten sie gleichermaßen nicht glücklich sein, wenn sie die Welt erobert und keine Feinde mehr zu bekämpfen hätten. In ähnlicher Weise wird Parteipolitik uninteressant, sobald eine Partei die fraglose Überlegenheit über die anderen gewonnen hat.
So kann eine Organisation, die ihren Anspruch an das Individuum von Begriffen, wie Stolz, Neid, Hass, Hochmut oder Freude am Kampf (21) , ableitet, ihren Zweck nicht erfüllen, wenn sie sich über die Welt ausdehnt. In einer Welt, in der solche Leidenschaften stark sind, würde eine Organisation, wenn sie weltumfassend wird, auseinanderbrechen, denn sie hätte ihre ursprüngliche Kraft verloren.
Man wird bemerken, dass in dem eben Gesagten mehr die Gefühle gewöhnlicher Mitglieder von Organisationen als die Gefühle ihrer Führungen in Betracht gezogen wurden. Welchem Zweck auch eine Organisation dient, ihre Führung leitet Befriedigung aus der Macht ab und hat infolgedessen ein Interesse, das nicht mit dem ihrer Mitglieder identisch ist. Der Wunsch nach universeller Eroberung wird daher wahrscheinlich stärker in der Führung als in den Mitgliedern sein.
Es gibt nichtsdestoweniger einen bedeutenden Unterschied in der Dynamik von Organisationen, die auf durch Zusammenarbeit zu verwirklichenden Gefühlen beruhen, und solchen, deren Ziele im wesentlichen Konflikt beinhalten. Es handelt sich um ein umfangreiches Thema, und für den Augenblick beschäftigt mich nur die Andeutung der Grenzen bei der Untersuchung von
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