Macht (German Edition)
Propaganda und Erziehung beseitigt werden, da durch diese der Wunsch nach persönlicher Unabhängigkeit außerordentlich geschwächt werden kann. Viele Kräfte wirken zusammen, um modernen Gemeinschaften uniformen Charakter zu verleihen – Schulen, Zeitungen, Kino, Radio, Drill und so weiter. Gleiche Wirkung hat Bevölkerungsdichte. Ein augenblickliches Gleichgewicht zwischen dem Gefühl für Unabhängigkeit und der Machtliebe verliert sich daher unter neuzeitlichen Bedingungen mehr und mehr in die Richtung der Macht und erleichtert auf diese Weise die Schaffung und den Erfolg totalitärer Staaten. Durch Erziehung kann Unabhängigkeitsliebe in einem Grade geschwächt werden, dessen Grenzen heutzutage nicht bekannt sind. Wie weit die innere Staatsmacht allmählich erhöht werden kann, ohne eine Revolte hervorzurufen, kann man nicht sagen; aber es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln, dass sie zu gegebener Zeit weit über den Punkt hinaus gesteigert werden kann, der heute selbst in den am meisten autokratischen Staaten erreicht ist.
Vom Staat unterschiedliche Organisationen unterliegen meist Gesetzen von der gleichen Art, die wir bereits untersucht haben, nur können sie keine Gewalt gebrauchen. Ich nehme die von meiner Betrachtung aus, die dem Machttrieb wenig Spielraum gewähren, zum Beispiel Klubs. Die für unsere Zwecke wichtigsten sind politische Parteien, Kirchen und Wirtschaftsvereinigungen. Die meisten Kirchen erstreben Universalität, so gering auch immer die dafür vorhandene Möglichkeit sei. Ebenfalls versuchen die meisten, einige der intimsten Angelegenheiten ihrer Mitglieder zu regeln, wie etwa Heirat und Kindererziehung. Wenn es sich als möglich erwies, haben die Kirchen sich die Funktionen des Staates angeeignet, wie in Tibet und im Bereich von St. Peter und in gewissem Maße in ganz Westeuropa bis zur Reformation. Mit wenigen Ausnahmen wurde der Machttrieb der Kirchen nur durch den Mangel an Gelegenheit beschränkt sowie durch die Furcht vor Empörung in der Form von Häresie oder Schisma. Jedoch hat der Nationalismus ihre Macht in vielen Ländern erheblich verringert und viele Gemütsbewegungen, die früher in der Religion ein Ventil fanden, zum Staat hinübergespielt. (20 ) Die Verminderung der Stärke der Religion ist teils Ursache, teils Wirkung des Nationalismus und der erhöhten Kraft nationaler Staaten.
Politische Parteien waren bis vor kurzem sehr lose Organisationen, die nur geringe Versuche machten, die Handlungen ihrer Mitglieder zu kontrollieren. Das ganze neunzehnte Jahrhundert hindurch stimmten Parlamentsmitglieder sehr häufig gegen ihre Parteiführer, was zur Folge hatte, dass die Ergebnisse von Spaltungen weit weniger vorauszusagen waren als heute. Walpole, North und der jüngere Pitt beherrschten ihre Anhänger in bestimmtem Maße durch Korruption; nach der Abnahme der Korruption aber, und als die Politik noch aristokratischen Charakter besaß, hatten Regierungen und Parteiführer keine Möglichkeit, einen wirksamen Druck auszuüben. Heutzutage, besonders in der Labour Party, sind die Menschen zur Orthodoxie verpflichtet. Kommen sie dieser Verpflichtung nicht nach, so bedeutet das gewöhnlich sowohl politisches Verschwinden wie finanziellen Verlust. Zwei Arten von Loyalität werden verlangt: dem Programm gegenüber, in den Meinungen, die man äußert; und den Führern gegenüber, in der täglichen Aktion. über das Programm entscheidet man auf eine Weise, die man demokratisch nennt, die aber von wenigen Drahtziehern beeinflusst wird. Es bleibt den Führern überlassen, ob sie in ihrer Parlaments-oder Regierungsaktivität versuchen, das Programm durchzufahren; wenn sie sich entscheiden, es nicht zu tun, so ist es die Pflicht ihrer Anhänger, ihren Wortbruch bei Wahlen mit ihrer Stimme zu unterstützen, während sie zugleich in ihren Reden zu bestreiten haben, dass dieser Wortbruch stattgefunden hat. Es ist dieses System, das den Führern die Macht verliehen hat, sich ihren Gefolgsleuten gegenüberzustellen und Reformen zu empfehlen, die sie nicht durchzusetzen haben.
Wenn auch die Organisationsdichte in allen politischen Parteien stark zugenommen hat, so ist sie in demokratischen Parteien immer noch unermesslich geringer als unter Kommunisten, Faschisten und Nazis. Diese letzteren sind, vom historischen und psychologischen Gesichtspunkt aus, eine Entwicklung nicht der politischen Partei, sondern der Geheimgesellschaft. Unter einer autokratischen Regierung sind Menschen, die eine
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