Macht (German Edition)
nicht annehmen, dass es um einen so wichtigen Grundsatz ginge, dass Nachgeben Feigheit wäre; auf der anderen Seite darf die Mehrheit den Vorteil nicht bis zu einem Grade ausnützen, wo es zur Revolte käme. Das verlangt Erfahrung, Achtung vor dem Gesetz und die Gewohnheit zu glauben, dass Meinungen, die sich von der eigenen unterscheiden, kein Beweis für Verdorbenheit sein müssen. Noch wichtiger ist, dass kein Zustand akuter Furcht besteht, denn wenn es ihn gibt, sehen sich die Leute nach einem Führer um und unterwerfen sich ihm mit dem Ergebnis, dass er wahrscheinlich zum Diktator wird. Unter diesen Bedingungen kann die Demokratie die festeste Regierungsform sein, die bisher bekannt ist. In den Vereinigten Staaten, Großbritannien, den Dominions, in Skandinavien und in der Schweiz läuft sie kaum irgendwelche Gefahr, wenn nicht von außen her; in Frankreich festigt sie sich mehr und mehr. Außer ihrer Stabilität hat sie Glas Verdienst, die Regierungen zu veranlassen, dem Wohlergehen ihrer Bürger erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken – vielleicht nicht so viel, wie wünschenswert ist, aber doch vielmehr als in absoluten Monarchien, Oligarchien und Diktaturen.
Demokratie in einem modernen großen Staat hat gewisse Nachteile, keineswegs bedeutende allerdings im Vergleich mit anderen Regierungsformen überein ähnlich großes Gebiet, aber doch unvermeidlich Nachteile infolge der gewaltigen Bevölkerungsmasse. Im Altertum, als das Vertretungssystem unbekannt war, versammelten sich die Bürger auf dem Markt und stimmten persönlich über jede Frage ab. Solange der Staat auf eine einzelne Stadt beschränkt blieb, gab das jedem Bürger ein Gefühl wirklicher Macht und Verantwortlichkeit, um so mehr, als seine eigene Erfahrung ihn befähigte, die meisten der behandelten Fragen zu verstehen. Aber durch das Fehlen einer gewählten Legislatur konnte sich die Demokratie nicht über ein weiteres Gebiet erstrecken. Als den Einwohnern anderer Teile Italiens die römische Staatsbürgerschaft gewährt wurde, konnten die neuen Bürger in Wirklichkeit nicht an der politischen Macht teilhaben, weil das nur den in Rom Lebenden möglich war. Die geographische Schwierigkeit wurde in der modernen Welt durch die Wahl von Vertretern überwunden. Bis vor ganz kurzer Zeit hatten die einmal gewählten Vertreter eine beträchtliche unabhängige Gewalt, weil die Leute, die von der Hauptstadt entfernt lebten, nicht früh oder ausführlich genug wissen konnten, was geschehen würde, um ihre Meinung tatsächlich ausdrücken zu können. Heute dagegen sind große Länder durch Rundfunk, bewegliche Verkehrsverhältnisse und Zeitungen den Stadtstaaten des Altertums immer ähnlicher geworden; es gibt einen mehr persönlichen Kontakt (in gewissem Sinne) zwischen den Leuten im Zentrum und den entfernteren Wählern; Anhänger können auf Führer einen Druck ausüben, und umgekehrt können Führer auf ihre Anhänger in einem Maße Einfluss nehmen, das im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert unmöglich war. Als Ergebnis hat sich die Bedeutung des Vertreters vermindert und die des Führers vermehrt. Parlamente sind nicht mehr tatsächliche Vermittler zwischen Wählern und Regierungen. Alle zweifelhaften propagandistischen Tricks, die früher auf die Wahlzeit beschränkt blieben, können nun ununterbrochen angewendet werden. Der griechische Stadtstaat mit seinen Demagogen, Tyrannen, Leibwachen und Verbannten ist wieder erstanden, weil seine Propagandamethoden wieder verfügbar wurden.
Außer, wenn er für einen Führer begeistert ist, hat der Wähler in einer großen Demokratie in so geringem Maße das Gefühl von Macht, dass er es oft nicht für lohnend hält, von seinem Stimmrecht Gebrauch zu machen. Wenn er kein eifriger Propagandist für eine der großen Parteien ist, lässt der riesige Umfang der Kräfte, die darüber entscheiden, wer regieren soll, seinen eigenen Teil völlig unbedeutend erscheinen. Tatsächlich besteht alles, was er in der Regel tun kann, darin, für einen von zwei Männern zu stimmen, deren Programme ihn nicht sehr interessieren und sich nur wenig voneinander unterscheiden, und die, wie er weiß, ungestraft auf ihre Programme verzichten können, sobald sie gewählt sind. Wenn andererseits ein Führer existiert, den er begeistert bewundert, treffen wir auf den gleichen psychologischen Vorgang, den wir in Verbindung mit der Monarchie untersuchten: die Psychologie des Bandes zwischen einem König und dem Stamm oder der Sekte
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