Macht (German Edition)
macht, beginnen die Menschen daran zu zweifeln, dass sie den Willen Gottes wirklich vertritt; und wenn dieser Zweifel allgemein wird, beginnt der ganze kirchliche Bau zu bröckeln wie in den germanischen Ländern zur Zeit der Reformation.
Im Falle der Kirche stellt die Beziehung zwischen Macht und Ethik in gewissem Maße das Gegenteil zu jener Beziehung in den Fällen dar, die wir bisher untersucht haben. Positive Moral vereint Unterordnung unter Eltern, Gatten und Könige, weil sie mächtig sind; die Kirche aber ist mächtig ihrer moralischen Autorität wegen. Dies trifft allerdings nur bis zu einem bestimmten Punkt zu. Wo die Kirche gesichert ist, entsteht eine Moral der Unterordnung gegenüber der Kirche, genau so wie eine Moral der Unterordnung gegenüber Eltern, Gatten und Königen entstanden ist. Und eine revolutionäre Ablehnung dieser Moral der Unterordnung entsteht auf die gleiche Weise. Häresie und Schisma sind der Kirche besonders verhasst und sind daher wesentliche Elemente in revolutionären Programmen. Es gibt aber noch kompliziertere Ergebnisse der Opposition gegen priesterliche Macht. Da die Kirche der offizielle Hüter der Moral ist, werden ihre Gegner sich leicht ebenso in moralischen wie in doktrinären und Regierungsfragen auflehnen. Das kann, wie bei den Puritanern, in der Richtung größerer Strenge oder, wie bei den französischen Revolutionären, in der Richtung des Sichgehenlassens sein; aber in beiden Fällen wird Moral zur Privatsache und hört auf, Gegenstand offizieller Entscheidungen durch eine öffentliche Körperschaft zu sein.
Man darf nicht glauben, dass persönliche Moral im Allgemeinen schlechter als offizielle priesterliche Moral wäre, selbst wenn sie weniger streng ist. Man hat manche Beweise dafür, dass im sechsten Jahrhundert vor Christi Geburt, als die Stimmung in Griechenland gegen das Menschenopfer stark zunahm, das delphische Orakel versuchte, diese humanitäre Reform hinauszuzögern und die alte, starre Handlungsweise beizubehalten. Ähnlich ist es heutzutage, wo der Staat und die öffentliche Meinung es für erlaubt ansehen, dass man die Schwester seiner verstorbenen Frau heiratet, während die Kirche, insoweit sie die Macht dazu hat, ihr altes Verbot aufrechterhält.
Wo die Kirche ihre Macht verloren hat, ist die Moral nicht eigentlich persönlich geworden, außer für einige besondere Leute. Für die Mehrheit wird sie durch die öffentliche Meinung vertreten, und zwar durch die Nachbarn im allgemeinen wie auch durch mächtige Gruppen – die Unternehmer zum Beispiel. Vom Standpunkt des Sünders aus kann die Änderung geringfügig sein und sogar eine Verschlechterung bedeuten. Wo das Individuum gewinnt, so nicht als Sünder, sondern als Richter: Es nimmt an einem inoffiziellen demokratischen Gerichtshof teil, während es da, wo die Kirche stark ist, die Regeln der Autorität anzuerkennen hat. Der Protestant, dessen moralisches Gefühl stark ausgeprägt ist, usurpiert die ethischen Funktionen des Priesters und nimmt eine gewissermaßen behördliche Stellung gegenüber den Tugenden und Lastern anderer Leute ein – besonders gegenüber den letzteren:
Merke nur auf und künde dann
Des Nachbarn Fehl und 'Irrtum.
Das ist nicht Anarchie, es ist Demokratie.
Die These, der zufolge die Moral Ausdruck der Macht ist, ist also, wie wir gesehen haben, nicht ganz richtig. Von den exogamen Gesetzen der Wilden angefangen, gibt es in allen Stadien der Zivilisation ethische Prinzipien, die keine sichtbare Beziehung zur Macht haben – was uns selbst betrifft, so mag die Verdammung der Homosexualität als Beispiel dienen. Die marxistische These, nach der die Moral ein Ausdruck wirtschaftlicher Macht ist, ist noch weniger zutreffend als die These, dass sie Ausdruck der Macht überhaupt sei. Und doch ist die marxistische These in vielen Fällen richtig. Zum Beispiel: Als im Mittelalter die mächtigsten Laien Grundbesitzer waren, die Bistümer und Klosterorden ihre Einkünfte aus Ländereien zogen und die einzigen Geldverleiher Juden waren, verurteilte die Kirche ohne Zögern den »Wucher«, das heißt das Leihen von Geld gegen Zinsen. Hier handelt es sich um die Moral eines Schuldners. Mit dem Aufstieg der reichen Kaufmannsklasse konnte das alte Verbot nicht mehr aufrechterhalten werden: Es wurde zuerst von Calvin gelockert, dessen Anhängerschaft sich vor allem aus städtischen und wohlhabenden Schichten rekrutierte, später von den übrigen Protestanten und schließlich
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