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Macht (German Edition)

Macht (German Edition)

Titel: Macht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bertrand Russell
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eigenes Wissen bezeichnen, nicht durch Tradition oder die Weisheit von anderen; und die Lehre beruht nicht auf bestimmten Pflichten, sondern auf einer Lebensart, einer Art des Denkens und Fühlens, die einem, ohne dass man Regeln brauchte, klar macht, was in jeder Lage getan werden muss. Dasselbe kann man von den frühen Buddhisten sagen. Die jüdischen Propheten vergeistigen in ihrer besten Zeit das Gesetz und vertreten eine neue und innerlichere Tugend, die nicht von der Tradition, sondern durch die Worte »So spricht der Herr«, nahegelegt wird. Sokrates handelt, wie ihm sein Daimon befiehlt, nicht wie die gesetzlich begründeten Behörden wollen; er will lieber den Märtyrertod sterben als seiner inneren Stimme untreu werden. Alle diese Menschen waren in ihrer Zeit Empörer, und ihnen allen wird heute Ehre erwiesen. Was in ihnen neu war, ist heute selbstverständlich geworden. Aber es ist gar nicht leicht zu sagen, worin dieses Etwas besteht.
    Das von jedem denkenden Menschen anzuerkennende Minimum – ob er sich einer geschichtlich begründeten Religion zuzählt oder eine solche Religion für eine Verbesserung des Vorausgegangenen hält – lässt sich folgendermaßen ausdrücken: Jede Lebensart, die in irgendeinem Sinne besser war als die vorausgegangene, wurde zuerst von einer Person oder einer Gruppe von Personen gegen die Ansicht des Staates und der Kirche ihrer Zeit befürwortet. Es folgt daraus, dass es nicht immer für einen Menschen falsch sein kann, sich in moralischen Fragen zu empören, selbst wenn sein Standpunkt der Ansicht der ganzen Menschheit bis in seine Tage zuwiderläuft. In Bezug auf die Wissenschaft stimmt jeder heutzutage der entsprechenden Lehre zu; aber in der Wissenschaft sind die Mittel bekannt, mit welchen eine neue Lehre geprüft wird, und sie wird entweder bald allgemein angenommen oder aus anderen als traditionellen Gründen verworfen. Die Ethik verfügt über keine derart offenkundigen Mittel, mit welchen eine neue Lehre geprüft werden kann. Ein Prophet kann seine Lehre mit einem »So spricht der Herr« überschreiben, was ihm genügt; wie können aber andere Leute wissen, dass er eine wirkliche Offenbarung hatte? Im Deuteronomium wird merkwürdigerweise die gleiche Prüfung empfohlen, die in der Wissenschaft oft für entscheidend angesehen wird, nämlich der Erfolg der Voraussage: »Und wenn du in deinem Herzen sagst: Wie sollen wir das Wort kennen, das der Herr nicht gesprochen? Spricht ein Prophet im Namen des Herrn und das Verkündete folgt nicht und tritt nicht ein, so hat der Herr es nicht verkündet, sondern fälschlich der Prophet.« Aber der moderne Verstand kann kaum eine solche Prüfung einer ethischen Lehre anerkennen.
    Wir haben die Frage zu beantworten: Was versteht man unter einer ethischen Lehre und auf welche Weise, wenn überhaupt, ist sie überprüfbar?
    Historisch betrachtet ist Ethik mit Religion verknüpft. Für die meisten Menschen genügte die Autorität: Was in der Bibel oder von der Kirche als recht oder unrecht bezeichnet wurde, ist recht oder unrecht. Aber gewisse Individuen hatten von Zeit zu Zeit die göttliche Eingebung: Sie wussten, was recht oder unrecht war, weil Gott direkt zu ihnen sprach. Diese Menschen lebten, nach der Ansicht der Orthodoxen, alle vor langer Zeit, und wenn ein Mensch der Neuzeit behauptet, einer von ihnen zu sein, steckt man ihn am besten ins Irrenhaus, sofern die Kirche nicht wirklich seine Aussagen sanktioniert. Das ist jedoch lediglich die gewöhnliche Situation des Empörers, der Diktator wird, und hilft uns nicht bei der Entscheidung darüber, was die legitimen Funktionen des Empörers sind.
    Können wir Ethik in nichttheologische Termini übersetzen? Viktorianische Freidenker zweifelten nicht daran, dass dies möglich sei. Die Utilitarier zum Beispiel waren hochmoralische Menschen und überzeugt, dass ihre Moral eine verstandesmäßige Grundlage hatte. Die Sache ist trotzdem schwieriger, als sie ihnen erschien.
    Wir wollen eine Frage betrachten, die durch die Erwähnung der Utilitarier aufgeworfen wird, nämlich: Kann eine Verhaltungsvorschrift jemals eine sich selbst genügende Ethik sein, oder muss sie immer von der guten oder schlechten Wirkung der fraglichen Vorschrift her abgeleitet werden? Die übliche Ansicht ist, dass bestimmte Handlungen Sünden, andere tugendhaft sind, und zwar unabhängig von ihrer Wirkung. Andere Handlungen sind vom ethischen Standpunkt aus neutral und können nach ihren Ergebnissen beurteilt

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