Macht (German Edition)
ritterlichen Gefangenen mit Höflichkeit begegnen. Aber die Konflikte der Ritter waren nicht sehr ernst; den Albigensern zeigte man nicht das geringste Mitleid. Heutzutage hat man den Opfern des weißen Terrors in Finnland, Ungarn, Deutschland und Spanien gegenüber fast ebenso große Grausamkeit gezeigt, und kaum irgendein Protest ist laut geworden außer unter politischen Gegnern. Der Terror in Russland ist gleichermaßen von den meisten Linken mit Stillschweigen übergangen worden. Heute wie in den Tagen des Alten Testaments wird eine Pflicht gegenüber Feinden in der Praxis nicht anerkannt, wenn sie mächtig genug sind, um Furcht zu erwecken. Positive Moral ist immer noch lediglich in der betroffenen gesellschaftlichen Gruppe wirksam und daher auch noch eine Angelegenheit der Regierung. Nichts außer einer Weltregierung wird Leute mit kämpferischer Veranlagung veranlassen zuzugeben, dass moralische Verpflichtungen sich nicht nur auf einen Teil der Menschheit beschränken.
Es ist mir in diesem Kapitel bisher um die positive Moral gegangen, und wie es sich herausstellt, genügt das nicht. Kurz gesagt, steht sie auf der Seite der jeweiligen Macht, sie räumt der Revolution keinen Platz ein, sie trägt nichts dazu bei, die Heftigkeit der Gegensätze zu Mildern, und sie findet keine Stelle für den Propheten, der eine neue moralische Einsicht verkündet. Es geht um einige schwierige theoretische Fragen, aber bevor wir sie anschneiden, wollen wir uns einiger Dinge entsinnen, die nur die Gegnerschaft gegen die positive Moral zuwege bringen konnte.
Die Welt schuldet dem Evangelium manches, wenn auch nicht so viel, wie es der Fall wäre, wenn die Evangelien mehr Einfluss besäßen. Sie schuldet manches jenen, die die Sklaverei und die Knechtschaft der Frauen anprangerten. Wir dürfen hoffen, dass sie eines Tages jenen einiges schulden wird, die Krieg und wirtschaftliche Ungerechtigkeit anklagen. Im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert schuldete sie viel den Aposteln der Toleranz; vielleicht wird das in einem glücklicheren Zeitalter als das unsere wieder der Fall sein. Revolutionen gegen die mittelalterliche Kirche, die Monarchien der Renaissance und die heutige Macht der Plutokratie sind notwendig, um eine Stagnation zu vermeiden. Wenn wir zugeben müssen, dass die Menschheit Revolution und individuelle Moral braucht, so handelt es sich andererseits darum, diesen Dingen einen Platz einzuräumen, ohne die Welt in Anarchie zu stürzen.
Zwei Fragen müssen behandelt werden, erstens: Was ist die klügste Haltung der positiven Moral von ihrem Standpunkt aus gegenüber der persönlichen Moral? Zweitens: Wieviel Achtung schuldet die persönliche der positiven Moral? Bevor wir aber diese Fragen beantworten, soll ein Wort zu dem gesagt werden, was man unter persönlicher Moral versteht.
Persönliche Moral kann entweder als historische Erscheinung oder vom Standpunkt des Philosophen aus betrachtet werden. Beginnen wir mit der ersten Möglichkeit.
Beinahe jedes Individuum, das jemals existiert hat, soweit es der Geschichte bekannt ist, hat eine tiefe Abneigung gegen gewisse Handlungen gehabt. In der Regel werden derartige Akte nicht nur von einem Individuum, sondern von einem ganzen Stamm oder einer Nation oder einer Sekte oder Klasse verabscheut. Manchmal ist der Ursprung des Abscheus unbekannt, manchmal kann man ihn bis zu einer historischen Persönlichkeit zurückverfolgen, die ein moralischer Erneuerer war. Wir wissen, warum die Mohammedaner keine Bilder von tierischen oder menschlichen Wesen herstellen; es geschieht darum, weil der Prophet es ihnen verbot. Wir wissen, warum orthodoxe Juden keinen Hasen essen – das mosaische Gesetz erklärt, dass der Hase unrein ist. Wenn solche Verbote anerkannt werden, gehören sie zur positiven Moral; aber ihrem Ursprung nach, wenn überhaupt dieser Ursprung bekannt ist, gehörten sie zur privaten Moral.
Moral ist jedoch für uns heute mehr als positive oder negative rituelle Vorschriften. In der uns vertrauten Form ist sie nicht primitiv, sondern scheint eine Anzahl von unabhängigen Quellen zu haben – chinesische Weise, indische Buddhisten, jüdische Propheten und griechische Philosophen. Diese Männer, deren geschichtliche Bedeutung kaum überschätzt werden kann, lebten um wenige Jahrhunderte voneinander entfernt und besaßen gewisse gemeinsame Züge, die sie von ihren Vorläufern unterschieden. Laotse und Chuangtse verbreiten die Lehre des Tao, mit welchem Namen sie ihr
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