Macht Musik schlau?
anatomischen Auffälligkeiten seien sie mehr oder weniger unbewusst zur Musik «gedrängt» worden. Man könnte sich diesen Vorgang eventuell so vorstellen, dass bestimmte hirnanatomische Voraussetzungen mit bestimmten Fähigkeiten gekoppelt wären. So könnte man etwa annehmen, dass Menschen, die über eine bessere interhemisphärische «Verkabelung» verfügen, mehr oder weniger unbewusst bemerken würden, dass sie besonders gut musizieren können. Dies würde dann ihre Motivation steigern, weiter zu musizieren. So plausibel dieses Argument zunächst erscheinen mag, es ist zu komplex und insbesondere abhängig von zu vielen unbekannten Rahmenbedingungen. Wir wissen derzeit überhaupt noch nicht, ob musikalische Begabung (sofern es sie überhaupt gibt) mit ganz bestimmten anatomischen Merkmalen zusammenhängt. (Damit der Leser hier nicht verwirrt ist: Mit Begabung meine ich die übungsunabhängige Veranlagung zum Musizieren.) Zudem stellt sich die Frage, wie ein Musiker die «anatomisch» begründete Begabung bemerken soll. Anders ausgedrückt: Wie kann man darauf aufmerksam werden, dass man begabt ist und über eine besondere Hirnanatomie verfügt? Was ist dann mit den Personen, die nicht bemerken, dass sie musikalisch begabt sind? Haben die trotzdem auffällige Gehirne? Ist ihr auditorischer Kortex und/oder das Handmotorareal ebenfalls gröÃer? Im Grunde ist esschon erstaunlich, wie deutlich doch die anatomischen Unterschiede zwischen Musikern und Nichtmusikern ausfallen, was darauf hindeutet, dass es offenbar sehr selten Nichtmusiker gibt, die über die gleiche Hirnanatomie wie Musiker verfügen. Allerdings darf man diese, für mich zweifellos weniger plausible MutmaÃung nicht einfach so «vom Tisch wischen». Es mag durchaus den einen oder anderen Nichtmusiker geben, der über eine «musiktypische Hirnanatomie» verfügt. Vielleicht bin ich ja so eine seltene Variante. Ich kann mich noch sehr gut an meine gemeinsame Zeit mit Gottfried Schlaug am Beth Israel Hospital in Boston erinnern, und ich weià noch zu gut, wie er immer mit einem Lächeln zu mir sagte: «Aus dir wäre bei entsprechendem Training sicher ein sehr guter Musiker geworden, denn dein Planum temporale ist insbesondere in der linken Hemisphäre so groà wie bei absolut hörenden Musikern.» Das war Anfang der 1990er-Jahre, als wir uns vermehrt auf das Planum temporale konzentrierten. In diesem Zusammenhang legten wir uns natürlich auch sehr häufig selbst in den Magnetresonanztomographen, um uns gegenseitig zu vermessen. Nicht selten verbrachten wir zwei bis vier Stunden im Scanner und probierten immer wieder neue Messsequenzen und Versuchsprotokolle aus. Ich habe seither nie mehr so häufig mein digitales Gehirn mit dem groÃen linksseitigen Planum temporale gesehen. Vielleicht wäre ich ja wirklich bei entsprechend frühem Musiktraining zu einem glänzenden absolut hörenden Musiker geworden. Nun ja, dies ist alles Spekulation, aber ich denke, dass wir die einfachste und plausibelste Erklärung wählen sollten, solange wir noch nicht über genügend Wissen verfügen, um ein Problem zu erklären. Demzufolge gehe ich davon aus, dass sich auf der Basis von noch ungeklärten hirnanatomischen Grundlagen (die mit psychischen Begabungen zusammenhängen) die hirnanatomischen Merkmale infolge von Trainingseinflüssen verändern. Für mich ist dies auch deswegen plausibel, weil unser Gehirn sehr flexibel sein muss, um sich den unterschiedlichen Umweltanforderungen anzupassen (Jäncke, 2001; Münte, Altenmüller und Jäncke, 2002).
Tabelle 4 : Hirngebiete, in denen Musiker über eine gröÃere Dichte der grauen Substanz als Amateurmusiker und Nichtmusiker verfügen.
Nr.
Hirngebiet
wesentliche Funktion
1
Gyrus temporalis inferior
(links und rechts)
visuelle Analysen im Zusammenhang mit motorischen Handlungen
2
Gyrus präcentralis
(links und rechts)
motorische Kontrolle der Hände und Arme
3
Lobulus parietalis superior
(rechts)
Spielen vom Notenblatt visuell-räumliche Analysen sensomotorische Koordination
4
Heschlâscher Gyrus (links)
auditorische Verarbeitung von elementaren akustischen Merkmalen
5
Gyrus frontalis inferior
(links und rechts)
Arbeitsgedächtnis Aufmerksamkeit mentales Simulieren von Handlungen Sprach- und Musik-Syntaxverarbeitung
6
Gyrus frontalis medius
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