Machtkampf
ein anderer. Schorsch, dessen Körperumfang vermuten ließ, dass er gutes Essen und einige abendliche Bierchen nicht verschmähte, lehnte sich an seine Theke und sinnierte: »Der Max hat viel Geld gehabt – das dürfte klar sein. Aber richtig glücklich ist er nie gewesen.«
»Wer weiß, wo der überall seine Geschäfte gemacht hat«, unterbrach ihn der Jüngste aus der Runde, der erst vor Kurzem seinen landwirtschaftlichen Betrieb aufgegeben hatte und nun in Ulm als Kfz-Mechaniker arbeitete. »Viehhändler haben noch nie einen guten Ruf gehabt. Außerdem hat er sich viel im Ausland rumgetrieben. Im Osten.«
Schorsch strich sich durchs schüttere Haar. »Ich glaub, seine Probleme hatten weniger mit seinem Beruf zu tun als vielmehr mit seinem Lebenswandel.« Er zog die Stirn in noch tiefere Falten. »Wer weiß, vielleicht ist er heut Nachmittag gar nicht allein in seiner Liebeslaube gewesen.«
Ein Dritter in der Runde, der stets im blauen Arbeitskittel unterwegs war, brummte: »Aber du sagst doch, er hat sich selbst erschossen?«
»So heißt es bei der Feuerwehr«, erwiderte der Wirt. »Aber was die Kripo rauskriegt, muss man abwarten. Sie drehen gerade noch den Melzinger Hans durch die Mangel.«
»Wie? Den Hans?«, entfuhr es einem wortkargen Mittfünfziger. »Was hat der denn damit zu tun?«
Der Wirt trug die leeren Schnapsgläser wieder zur Theke. »Was soll er damit zu tun haben? Er hat schließlich als Erster die Leiche gesehn. Und vielleicht auch einige Spuren – falls es sie gibt.«
»Spuren?«, echote der Jüngste. »Was denn für Spuren? Mehr als die von Max selbst wird’s ja wohl nicht geben.«
»Mensch, Arnold, jetzt denk doch mal nach«, zeigte sich der Mann im Arbeitskittel gereizt. »Vielleicht hat eine seiner letzten Verehrerinnen Spuren hinterlassen.«
Dieter Kugler war nach der zweistündigen Vernehmung bei der Kriminalpolizei in Geislingen wie in Trance heimgefahren. Nur sein Unterbewusstsein hatte den silberfarbenen Mercedes die Steilstrecke zur Albhochfläche hinaufgesteuert und ihn in der herbstlichen Dunkelheit die paar Kilometer nach Rimmelbach gebracht. Dass hinter Böhmenkirch, kurz vor Rimmelbach, vor ihm ein Leichenwagen in einen Feldweg abgebogen war, registrierte Kugler nur am Rande. Er fühlte sich elend, hatte Kopfschmerzen und einen unruhigen Darm. Beim Erreichen des Ortsschildes, das ihm schon so vertraut geworden war, obwohl er die Pfarrerstelle erst ein knappes Jahr innehatte, pochte sein Herz noch schneller. Vielleicht hatte sich bereits herumgesprochen, wo er war. Womöglich wussten sie alle schon, dass die Staatsanwaltschaft wegen des ›Verdachts der Misshandlung von Schutzbefohlenen‹ ermittelte – so jedenfalls stand’s im besten Bürokratendeutsch im Protokoll.
Sie würden mit den Fingern auf ihn zeigen, die Kinder von der Straße holen und sie letztlich nicht mehr zum Religionsunterricht schicken. Sehr wahrscheinlich würde der Oberkirchenrat dem Druck der Bevölkerung nachgeben und ihn sogar beurlauben. Wie immer würde es heißen, dass ein Angeschuldigter stets als unschuldig zu gelten habe, solange es kein rechtskräftiges Urteil gebe.
Aber was half dies alles gegen des Volkes Zorn? Gegen Gerüchte und falsches Gerede?
Kugler fuhr so unauffällig wie möglich zum Pfarrhaus, ließ das elektrische Garagentor ferngesteuert nach oben rollen und stellte den Mercedes ab. Mit zitternden Knien stieg er aus, nahm das braune Kuvert mit den Akten und wäre am liebsten in den Boden versunken. Glücklicherweise war es schon dunkel, sodass die neugierigen Blicke, die er aus den nachtschwarzen Fenstern der alten Häuser ringsherum auf sich gerichtet fühlte, weniger schmerzten.
Er ließ das Garagentor nach unten gleiten und stapfte, schwer atmend und auf die Pflastersteine starrend, zur Haustür. Seine Finger zitterten so sehr, dass er Mühe hatte, den Schlüssel ins Schloss zu stecken.
Als die Tür hinter ihm wieder zufiel, fühlte er sich erleichtert. Es war ihm, als habe er die Welt draußen gelassen – als sei er ihr entwichen. Doch so einfach würde dies nicht sein. Denn die Last, die ihn zentnerschwer drückte, war amtlich festgeschrieben – auf ein paar Seiten Papier, die in ein einziges Kuvert passten. Diese Worte würde er nie mehr vergessen und nie mehr richtig loswerden, hämmerte eine innere Stimme. Du bist gebrandmarkt. Nichts wird mehr so sein, wie es einmal war. Nichts. Er erschrak, dass es ihm ausgerechnet in dieser Situation schwerfiel, Gott
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