Machtkampf
vor.
»Platz zum Liegen«, stellte Vanessa lächelnd fest.
»Richtig erkannt, Frau Kollegin. Und er hat es wohl auch genutzt. Denn es gibt zwei zusammenklappbare und gut gepolsterte Liegen. Und außerdem hatte er heute eine Kühltasche dabei, in der sich zwei Gläser und eine Flasche befanden. Prosecco übrigens.«
»Ich sag doch: Er hat Besuch erwartet.«
»Aber zum gemeinsamen Sekttrinken ist es dann wohl nicht gekommen. Die Flasche ist verschlossen, die Gläser sind unbenutzt.«
»In Erwartung eines Liebesabenteuers bringt man sich aber doch nicht um.«
»Exakt, liebe Vanessa.« Er lächelte. »Ich glaube, wir beide könnten uns so was nicht vorstellen.«
»Wir beide?« Vanessa schluckte verwundert.
»Na ja, theoretisch eben«, beeilte er sich leicht verlegen anzufügen. »Also, wenn wir uns beide irgendwo verabreden würden und ich würde auf dich warten – ganz ehrlich, Vanessa, da würde ich mich nicht gleich erschießen, falls du nicht kommen würdest.«
Sie wusste mit dieser Bemerkung nichts anzufangen und verkniff sich ein Lächeln.
Er zögerte. Konnte er es jetzt riskieren, sie zu fragen, ob sie so eine Situation ohne selbstmörderisches Ende einmal ausprobieren sollten? Immerhin war er wieder einmal solo, denn nachdem er mit seiner vorherigen Freundin eine Rundreise durch Mexiko gemacht hatte, war es mit der Begeisterung vorbei gewesen. Nena hatte sich zunehmend als dominante Lederlady entpuppt, was anfangs durchaus spannend gewesen war. Dann allerdings hielt er ihre immer verrückter werdenden Fantasien für ziemlich übertrieben.
Vanessa sah ihn mit großen blauen Augen an und zog eine Schnute, die Linkohr nicht zu deuten wusste. Die junge Frau war erst vor einer Woche von der Polizeidirektion Göppingen zur Kriminalaußenstelle Geislingen abbeordert worden und sie hatten bislang kaum Gelegenheit gefunden, sich ausführlich zu unterhalten. Die Kollegen der Dienststelle trieb ohnehin in diesen Monaten die Sorge um, wie es nach der anstehenden Polizeireform in Baden-Württemberg mit ihnen weitergehen würde. Die kleine Kriminalaußenstelle Geislingen galt bereits als gestrichen.
Linkohr hoffte inständig, sich nach Göppingen retten zu können, um endlich nicht nur bei großen Fällen, sondern auch bei der täglichen Routinearbeit mit seinem Vorbild August Häberle zusammenarbeiten zu können. Aber der sprach immer häufiger vom nahenden Ruhestand.
»Jedenfalls hat die Staatsanwaltschaft eine Obduktion angeordnet«, wurde Linkohr wieder sachlicher. »Und der Chef meint, wir sollen Häberle verständigen.«
»Den ›großen‹ Häberle?«, fragte Vanessa geradezu ehrfurchtsvoll und hellwach.
»Ja, genau den.«
»Da fällt mir ein«, ereiferte sich die junge Frau, »dieser Hochsitz steht ja ziemlich genau an der Markungsgrenze zwischen Böhmenkirch und Rimmelbach.«
»Stimmt. Aber beides gehört gerade noch zum Kreis Göppingen und damit zu unserem Zuständigkeitsbereich.«
Vanessa trumpfte mit einer Neuigkeit auf: »In diesem Rimmelbach ist momentan auch unser Kollege Martin Wissmut zugange.«
»Der Wissmut? Von der Sitte? Du willst doch nicht behaupten, dass es in diesem kleinen Kaff gerade um ein Sexualdelikt geht?«
»So genau weiß man das noch nicht. Es geht um den Pfarrer.« Vanessa wurde ernster und fügte an: »Eine ziemlich heikle Geschichte, hat Wissmut gesagt.«
Sandra Kowick war eine kräftige Frau Mitte 30 und seit Langem auf dem großen landwirtschaftlichen Anwesen beschäftigt, das man in Rimmelbach den ›Hochsträßhof‹ nannte – in Anlehnung an eine historische Wegeverbindung. Er war erst in den frühen 70er- Jahren komplett neu aufgebaut worden – mit einem im Landhausstil gehaltenen Wohngebäude und einer separaten Scheune für die Lagerung von Heu und Stroh sowie einer großen Stallung für Milchkühe.
Hier, am Ortsrand von Rimmelbach, schmiegte sich das Anwesen an einen sanften Höhenzug, über den sich die Rotoren weiter entfernt gelegener Windkraftanlagen hinwegreckten.
Sandra Kowick hatte jetzt, kurz nach 22 Uhr, noch einmal ihren vorgeschriebenen Gang durch den Kuhstall gemacht und nebenan in die riesige Scheune mit den Erntevorräten des vergangenen Sommers geblickt, als ihr Rauchgeruch in die Nase stieg. Sie musste für einen kurzen Moment daran denken, dass sie oft schon auf die Gefahr einer Selbstentzündung hingewiesen worden war. Feucht eingebrachtes Heu entwickelte nämlich enorme Hitze. Doch der Rauch kam nicht aus der Scheune, sondern wurde
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