Machtkampf
dafür gekämpft und du solltest weiter dafür kämpfen«, erwiderte Franziska und zündete eine Kerze an. »Du sagst doch selbst immer, dass alles einen Sinn macht und wir mit unserer begrenzten Sichtweise Gottes Pläne nicht ergründen können.« Wieder ein kurzes Lächeln. »Denk doch an deine Stickerei.« Es war der Hinweis auf ein winziges Stück Stoff, das er immer hervorholte, wenn er versinnbildlichen wollte, dass Gott eine andere Betrachtungsweise hatte als der Mensch. Die Stickerei zeigte auf der Vorderseite einen Baum – doch drehte man den Stoff um, sah man nur ein Gewirr von Fäden, das keinen Sinn zu machen schien.
Kugler nickte. Er wusste, worauf Franziska anspielte. »Und jetzt schau ich also gerade auf so eine Rückseite – in der Hoffnung, dass die Vorderseite ein schönes Bild ergibt.«
»Nicht in der Hoffnung«, mahnte Franziska, »sondern in der Gewissheit.«
Er atmete schwer. »Die mögen uns nicht«, sagte er schließlich. »Dabei wollte ich doch gerade hierher, um den Menschen in so einem kleinen Dorf beizustehen.«
Nacheinander kamen ihm viele junge Familien in den Sinn, die von ihren Eltern eine Landwirtschaft geerbt hatten und heutzutage nicht mehr von ihren kläglichen Einnahmen leben konnten. Kugler war hierher gekommen, um ihnen zur Seite zu stehen. Doch nun spürte er eine grenzenlose Enttäuschung und Leere. Das Wenige, was er sich in diesem dreiviertel Jahr mühsam aufgebaut hatte, war heute wie ein Kartenhaus zusammengefallen. Jetzt würden alle sagen, dass seine Kritiker recht gehabt hätten.
»Keiner von ihnen hat begriffen, worum’s geht«, seufzte er schließlich. »Sie lassen sich alle blenden, verkaufen ihre Ländereien und rennen zum Arbeiten in die Stadt, wo sie der Kapitalismus zu Sklaven macht.«
»Genau dies hört man vielleicht hier nicht so gern.«
»Mag sein, Franziska. Aber ich verstehe meinen Beruf nicht nur so, dass ich sonntags einen braven Gottesdienst abhalte und dabei ein paar alte Leute um mich schare. Das weißt du. Ich habe ein Leben lang versucht, den Menschen die Augen zu öffnen.«
»Und dies mit bemerkenswertem Mut«, warf seine Frau aufmunternd ein.
»Wenn wir als Kirche diesen Mut nicht haben – wer denn dann?« Beinahe wäre er jetzt ins Politisieren geraten, doch als sein Blick das Kuvert streifte, traf ihn die Erinnerung an die Vernehmung wieder wie ein schwerer Hammer.
Franziska überlegte während der entstandenen Pause, ob sie etwas ansprechen sollte, das nicht gerade dazu angetan war, seine Gemütslage zu verbessern. Aber sie konnte ihm die Nachricht nicht verheimlichen. »Da ist noch was anderes«, begann sie vorsichtig. »Der Bürgermeister hat angerufen.«
»Der Bürgermeister?« Kuglers Stimme wurde schwach. Hatte sich alles schon bis zum Rathaus herumgesprochen?
»Nein, nicht wegen dieser Sache«, beruhigte ihn Franziska. »Er wollte dir nur sagen, dass der Max Hartmann tot ist.«
Kugler musste das Gehörte einen Augenblick lang verarbeiten. »Hartmann? Der Viehhändler?«
»Ja.« Sie zögerte. »Es sieht nach einem Selbstmord aus. Erschossen. Mit seiner eigenen Waffe. Auf dem Jägersitz.«
Blitzartig entsann sich Kugler des Leichenwagens, den er bei der Heimfahrt gesehen hatte. »Auf dem großen Jägersitz?«, fragte er zurück. »Am Wald da drüben Richtung Böhmenkirch?«
Franziska nickte. »Genaues weiß man aber noch nicht. Soll wohl irgendwann im Laufe des Nachmittags passiert sein.«
»Schon wieder einer.« Kugler sank in sich zusammen. »Der zweite Selbstmord innerhalb kurzer Zeit.«
Sie wusste, wer noch gemeint war: Harald Marquart, ein 35-jähriger Landwirt. Der Junggeselle hatte sich am Karfreitag in seiner Scheune erhängt. Wie es hieß, war der elterliche Hof hoffnungslos überschuldet gewesen, sodass die Zwangsversteigerung anstand.
Kugler hatte in dieser Verzweiflungstat damals den Beweis gesehen, wie wichtig die seelisch-moralische Unterstützung dieser Generation war, die sich abmühte, das Erbe der Väter zu erhalten, und dabei in eine Schuldenfalle getrieben wurde. Nur die ganz Großen hatten in der Landwirtschaft noch eine Chance. Wem es gelang, möglichst viel Land aufzukaufen, zumindest aber auf lange Zeit hinaus zu pachten, der konnte mit den EU-Vorgaben Schritt halten. Es war halt wie überall im Geschäftsleben: Die Kleinen wurden ausgesaugt, die Großen zockten ab. Und wer sich dem System in den Weg stellte, wurde gnadenlos beseitigt. Bin ich jetzt der Nächste, der nicht ins System passt?,
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