Machtlos
trügerische Sicherheit vermittelt, doch sie ließ sich von der unverfänglichen Adresse nicht täuschen. Mayer war kein einfacher Staatsbeamter. Er war vom Bundesnachrichtendienst.
Was wäre passiert, wenn sie sich weiter geweigert hätte? Sie erinnerte sich, wie sie, flankiert von den beiden Beamten in ihren tadellosen Anzügen, das Flughafengebäude durchquert hatte, wie sich nach nur kurzem Aufblitzen ihrer Ausweise Türen wie von Zauberhand öffneten, Menschen ihnen den Weg frei machten. Der Gedanke an Flucht hatte sie auf diesem Weg ständig begleitet. Was wäre passiert, wenn sie sich geweigert hätte?
Sie stieg in den dunklen Audi Geländewagen, der vor dem Terminal im Halteverbot wartete. Mayer setzte sich neben sie, sein Kollege nahm neben dem Fahrer Platz. Kein Wort wurde gewechselt während der Fahrt durch die Stadt, die hinter getönten Scheiben an ihr vorbeiflog. Ihr Meeting in London würde in einer Stunde ohne sie beginnen. Sie dachte an all die Arbeit, die sie in das Projekt investiert hatte. An all die Hoffnung, die darauf ruhte. Bislang gab es nicht einmal eine Erklärung dafür, warum sie nicht dort war. Ihre Gedanken rasten noch immer, als der Wagen keine zehn Minuten später in die Tiefgarage des Polizeipräsidiums in der City Nord einbog. Sie musste Meisenberg anrufen. Ihn zuerst. Er musste sich mit London in Verbindung setzen. Sie hier rausholen. Wenn jemand herausfinden konnte, was sie in diese Situation gebracht hatte, dann er.
Der Fahrstuhl brachte sie in den zweiten Stock des sternförmigen Gebäudes. »Erkennungsdienst« las sie auf einem Schild. Sie wandte sich an Mayer.
»Was soll das?«, fragte sie und spielte in Gedanken die Möglichkeiten einer Dienstaufsichtsbeschwerde durch.
»Reine Routine«, erwiderte Mayer ruhig.
Als sie stehen blieb, nahm er ihren Arm.
Sie musste ihre Fingerabdrücke abgeben und wurde fotografiert.
»Wollen Sie keine Speichelprobe?«, fragte sie mit vor Wut geröteten Wangen.
»Später.«
Wieder ging es in den Fahrstuhl. Als sie ausstiegen, wehte ihnen der schwache Geruch von Kaffee entgegen. Mayer führte sie in einen leeren Raum.
»Ich möchte etwas zu trinken haben«, sagte sie.
Sie ließen sie allein, und sie hörte, wie sich ein Schlüssel im Schloss drehte. Valerie trat ans Fenster und starrte hinaus auf den runden, von Glasfassaden umschlossenen Innenhof, der wie die Nabe eines Rades im Zentrum des Gebäudekomplexes lag. Das leuchtende Rot des Morgens war einem grau verhangenen Himmel gewichen, leichter Nieselregen hatte eingesetzt. Sie wünschte sich, Marcs Stimme zu hören. Bei ihm zu sein.
Es dauerte nicht lange, bis Mayer zurückkam. Er reichte ihr einen Plastikbecher mit Wasser, und sie trank durstig. Hinter ihm schloss sein Kollege die Tür. Er hielt einen Ordner in der Hand.
»Setzen Sie sich«, bat Mayer und ließ sich ihr gegenüber an dem kleinen Tisch nieder, der vor dem Fenster stand. Erst jetzt bemerkte sie das Aufzeichnungsgerät, das er dort abgestellt hatte.
»Wir werden Ihre Aussagen aufnehmen«, sagte er lediglich, als er ihren Blick bemerkte.
Sie zog den Stuhl zurück und betrachtete Mayers Kollegen erstmals genauer. Seinem Äußeren nach zu urteilen, war er vermutlich schon in seinen Fünfzigern, das hagere Gesicht von Falten durchzogen. Sein stahlgraues Haar war millimeterkurz geschnitten und verlieh ihm eine unangenehme militärische Strenge. Er hatte in ihrer Gegenwart noch nicht einmal den Mund aufgemacht. Jetzt setzte er sich neben Mayer und reichte ihm den Ordner. Mayer klappte ihn wortlos auf und entnahm eine Fotografie im DIN -A4-Format. Schob sie ihr über den Tisch hinweg zu.
»Kennen Sie diese Frau?«
Valerie starrte auf eine Halbprofilaufnahme mit orientalischem Äußeren. Das Gesicht wurde von schwarzem Haar umrahmt, das in einem lockeren Knoten im Nacken zusammengefasst war. Die hohen Wangenknochen der Beduinen prägten die Züge. Valerie verschränkte ihre Hände fest ineinander, um ihr plötzliches Zittern zu unterdrücken, während ihr Blick beinahe liebkosend die feine Falte zwischen den Brauen suchte und die geschwungene Linie der Lippen Noor al-Almawis nachzog. Ihr Gehirn arbeitete fieberhaft. Was hatte ihre beste Freundin in den Fokus des BND gebracht?
Sie blickte in Mayers abwartendes Gesicht.
»Sie ist meine Freundin«, antwortete sie ruhig. »Wir arbeiten eng zusammen im Rahmen eines ehrenamtlichen Projekts, das die Zusammenführung von Flüchtlingsfamilien unterstützt. Aber das
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