Machtrausch
ansteigende Zahlen von Obdachlosen (ein besonders unfreundliches Exemplar lebte meistens in dem Bushaltestellenhäuschen gegenüber ihrer Wohnung, das gestankeshalber kein Fahrgast mehr benutzen wollte), und er bemerkte zunehmend Jugendliche, die bereits nach der Schule mit einer Flasche Wodka in der Hand betrunken auf den Straßen herumlungerten und vor den Augen aller Bürger langsam und öffentlich abstürzten. Die Leute taten so, als sähen sie die jungen Wracks nicht.
Seine Gedanken passten sich der Düsternis der regenschwangeren Stimmung um ihn herum an. Auf dem Orleansplatz, auf dem Bordeauxplatz und auf dem wunderschönen Pariserplatz, dessen Kopfsteinpflaster er gerade überquerte, wurden viele der aufgestellten Parkbänke von benebelten, zumeist sehr jungen Drogenabhängigen bevölkert. Die städtischen Bezirksausschüsse nahmen sich des Problems gekonnt an: Inzwischen wandelte man diese Plätze gezielt in Grünflächen um (auch, wenn ein Platz wie der Pariserplatz alles andere als grün war), so dass es juristisch möglich wurde, die störenden Subjekte polizeilich zu entfernen. Nirgends zeigte sich nach Glocks Ansicht die Ohnmacht und Ratlosigkeit der Gesellschaft mehr als in solchen Beschlüssen. Man kurierte hilflos an den Symptomen herum. Wo sollten die Abhängigen hin? In einen anderen Stadtteil? Nicht wenige Haidhauser Bürger und Geschäftsleute sahen dies durchaus so. Neulich hatte er die passende Bezeichnung ›Junky-Jogging‹ dafür gehört.
Seine Beobachtung war, und es schien sich durchaus um ein allgemein gültiges Gesetz zu handeln: Menschen, die viel Geld haben, geben den größten Teil dafür aus, mit dem normalen Volk nichts zu tun haben zu müssen. Sie fuhren niemals mit öffentlichen Verkehrsmitteln, sondern in Limousinen mit Chauffeur, sie kauften in Geschäften ein, in denen die Artikel in den Schaufenstern nicht einmal mehr Preisschilder trugen und in die sich kein gewöhnlicher Bürger verirrte, sie wohnten in eigenen Stadtvierteln auf großen, abgeschirmten Grundstücken und sie trafen sich in exklusiven Golf- und Segelclubs, in die man gegen das Jahresgehalt einer Sekretärin als Mitglied aufgenommen wurde. In den bevorzugten Restaurants dieser Privilegierten waren die exorbitant hohen Preise nicht nur der Gegenwert für Speisen und Service: Sie sortierten wirkungsvoller als jeder Türsteher die anderen, den Plebs aus, der sich solche Essenspreise weder leisten konnte, noch wollte. Glock fand das nicht unbedingt verkehrt, er stellte es lediglich fest. Klar war: So wenig der Reiche mit den normalen Bürgern zu tun haben wollte, so wenig hatten diese Interesse an Berührungen mit den Menschen am äußeren Rand der Gesellschaft, mit jenen, auf die sie wiederum selbst herabblickten.
Während Glock weiter durch die grauen Straßen von Haidhausen ging, stets die großen verkehrsreichen Durchgangsstraßen wie die Rosenheimer- oder die Orleansstraße meidend, rekapitulierte er geistig die drei Treffen von heute. Die Eindrücke vermischten sich bereits, vermengten sich, verschlierten, so wie eine Emulsion aus Öl, Essig und Senf dies stets tat bei der Zubereitung seiner guten Vinaigrette. In seinen heutigen Tag schien eine Idee zu viel Essig geraten sein.
Der Besuch vorhin im Krankenhaus war erschütternd gewesen. Babette, die in einem strahlendhellen Dreierzimmer im Klinikum Rechts der Isar lag, war, trotz der reparablen äußeren Verletzungen, in einem sehr schlechten Zustand. Der Finger war erfolgreich wieder angenäht worden und würde nach einer kurzen Rehaphase bald wieder voll funktionsfähig sein. Die Hautverletzungen durch das stark klebende Paketband sowie die blauen Flecke durch den brutalen Griff des Angreifers würden ebenfalls rasch verheilen. Aber die hübsche Frau hatte sich vom Schock des, für sie völlig unerklärlichen Angriffes noch nicht erholt und stand unter starken Beruhigungsmitteln. Der Arzt hatte sie gegenüber der Polizei für nicht vernehmungsfähig erklärt, und so lag der genaue Ablauf des Angriffs weiterhin im Dunklen. Babette blieb während des ganzen Besuchs stumm. Glock und seine Frau bemerkten jedoch, dass ihre Anwesenheit und der üppig frühlingsbunte Blumenstrauß, den sie mitgebracht hatten, eine positive Reaktion hervorriefen: Babette hob leicht die rechte Hand und eine Art verstörtes Lächeln kroch kaum merklich über ihre zarten Gesichtszüge. Sie blieben eine halbe Stunde, hielten Babette die unverletzte Hand und Barbara erzählte
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