Machtrausch
Hauptverwaltungsgelände der Schuegraf AG zugeeilt war.
Die Vielzahl von Mitarbeitern beeindruckte ihn immer wieder. Buchhalter, Entwickler, Sekretärinnen, IT-Spezialisten, Einkäufer, Projektleiter, Abteilungsleiter, Facharbeiter, Vertriebsbeauftragte und Stäbler (wie man die in der zentralen Stabsabteilung tätigen Mitarbeiter verniedlichend nannte) wie er selbst. Sie alle verbrachten den größten Teil ihrer Lebenszeit auf diesem Gelände. Da es sich vorwiegend um einen Verwaltungsstandort mit nur noch wenig Fertigung handelte – achtzig Prozent der Fertigung fand längst in Osteuropa und Asien statt – saßen die meisten der hier angestellten Menschen in einem hellen Großraumbüro und hatten gemäß Firmennorm etwa zwölf Quadratmeter Fläche für sich, ihre Akten und ihre Bürotasse. Sie freuten sich vormittags auf die Mittagspause, nachmittags auf den Feierabend und den ganzen Tag über auf den nächsten Urlaub und die Pensionierung. Sie waren die Mittelschicht dieses Landes, und ihr ganzes Leben war abhängig vom Wohl und Wehe dieser Firma. Freiwillige soziale Leistungen wie die großzügige Firmenpension hatten in früheren Zeiten eine Art Abhängigkeit vom Konzern erzeugt, die längst nicht mehr notwendig war, weil es kaum noch gut bezahlte Angestelltenjobs bei anderen Firmen gab, die zu einem Wechsel motiviert hätten. Alternativen fehlten einfach. Die Anzahl der Angestellten bei Schuegraf nahm stetig ab, da ein Effizienzsteigerungsprogramm das nächste jagte. ›HQ Halbe‹ lief gerade. Was im Klartext hieß, dass man binnen fünf Jahren das Headquarters, also die Zentrale, um die Hälfte reduzieren wollte. »Die Einschläge kommen näher«, hatte ein Freund aus dem Controlling die Situation plastisch beschrieben und damit gemeint, »dass, im Gegensatz zu früher, mittlerweile jeder Angestellte in unserem Kollegen- und Bekanntenkreis Menschen kennt, deren Job in naher Zukunft abgebaut werden soll oder die ihr Abfindungsangebot bereits auf dem Tisch haben! Es wird Ernst, Anton !« Der Rest der Mitarbeiter arbeitete unverdrossen weiter und glaubte aus irgendwelchen nicht nachvollziehbaren Gründen, gerade sie wären unverzichtbar und die nächste Granate würde im Zweifel nur in den Nachbarschreibtisch einschlagen. Glock war davon ebenso überzeugt, aber er war schließlich auch kein normaler Angestellter, der sich mit den neben ihm dahinströmenden Massen gleichsetzen lassen konnte. Als stellvertretender Leiter der zentralen Abteilung für Unternehmensstrategie hatte er viel Vorstandskontakt, wusste – jedenfalls bis zu der zweifelhaften Konferenz gestern –, dass man noch viel mit ihm vorhatte und war nicht Leidtragender, sondern einer der Köpfe und Planer der unabdingbaren Effizienzprogramme, wie Kostensparvorhaben etwas euphemistisch genannt wurden. Eines von Glocks zynischeren Gesetzen lautete: Der letzte verbliebene Mitarbeiter in einer Firma war derjenige, der eigenhändig die Folie mit dem aller letzten Vorschlag für ein Personalabbau-Programm auflegte. Die Chancen hierfür standen in der Strategieabteilung gut. Mit diesen Gedanken schritt er schließlich um 8.50 Uhr auf das höchste Gebäude des von außen, jedenfalls bei diesem grauen Wetter, bedrohlich wirkenden Komplexes zu und fuhr mit dem Fahrstuhl bis in den elften Stock, die so genannte Vorstandsetage.
»Wer beim Schachspiel meint, einen deutlichen Stellungsnachteil gegenüber dem Gegner zu haben, kann versuchen, zumindest einen halben Punkt zu retten, indem er ein Remis anbietet. Viele Spieler tun das nicht, weil sie Angst haben, das Gesicht zu verlieren, wenn der Gegner dies ablehnt. Sie spielen verbissen weiter auf Sieg und verlieren schließlich die Partie. Ein wirklich guter Spieler jedoch weiß, wann er remisiert !« Bei diesen Worten sah Nagelschneider sein Gegenüber lange mit seinen strahlend blauen Augen an. Asketisches Gesicht, kurz geschorene Haare, vom Typ her ein in die Jahre gekommener Extremsportler, der sich fit hielt. Glock wusste, dass Nagelschneider Marathon lief. Er verstand, weil selbst Schachspieler, wenngleich kein begnadeter, was der Vorstand damit sagen wollte: Er lobte auf indirekte Weise das Verhalten von Glock in der gestrigen Konferenz und bestätigte ihm, das Beste aus der eigentlich schon gekippten Situation herausgeholt zu haben. Glock nickte langsam und sagte:
»Ich verstehe, was Sie meinen, wenngleich meine Gegner gestern das Remis niemals angenommen hätten, wenn Sie meinem Vorschlag
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