Madam Wilkin's Palazzo
ich zum ersten
Mal eine rote Prachtmeise in der Mauser gesehen habe. Ich hätte glatt schwören
können, daß sie plötzlich zu einer völlig anderen Unterart gehörte!« Brooks
schüttelte traurig sein gepflegtes Haupt und sagte kein einziges Wort mehr, bis
sie ihr inzwischen wohlvertrautes Ziel in der Ipswich Street erreicht hatten.
Zum zweiten Mal wurde ihnen innerhalb
von zwei aufeinanderfolgenden Nächten der Genuß zuteil, Mrs. Tawnes
Plisseegewand und Metallwickler bewundern zu dürfen. Diesmal war sie sogar noch
ärgerlicher als beim letzten Mal.
»Ach, du bist es, Brooks«, sagte sie
naserümpfend. »Ich muß sagen, ich habe dich bisher immer für einen
rücksichtsvollen Menschen gehalten, auch wenn deine Cousine und ihr Kavalier es
nicht sind. Was wollt ihr denn diesmal?«
»Wir wollten Ihnen nur gratulieren«, sagte
der Kavalier, »zu der hervorragenden Arbeit, die Sie geleistet haben, als Sie
die Gemälde im Wilkins-Museum kopiert haben.«
Bittersohn hatte zwar mit einer
Reaktion gerechnet, jedoch keinesfalls mit der, die Dolores Tawne jetzt zeigte.
Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte ihn geküßt.
»Oh, vielen Dank, Mr. Bittersohn! Ich
muß schon sagen, aus dem Munde eines so bekannten Kunstexperten ist das
wirklich ein Kompliment. Bitte entschuldigen Sie, daß ich vorhin ein wenig kurz
angebunden war, aber ich hatte ja keine Ahnung — aber kommen Sie doch bitte
herein, so kommen Sie doch! Ich setze nur schnell den Kessel auf. Ich bin
sofort wieder zurück.«
Und schon eilte sie davon und ließ den
berühmten Kunstexperten völlig entgeistert an der Tür stehen. Sarah gab ihm
einen Stups. »Jetzt geh schon rein, du Dummkopf!« Sie selbst stieg vor ihnen
die Treppe von der Galerie ins Atelier hinunter und machte dabei höfliche
Konversation. Die Männer ließen sich nervös auf den Stuhlkanten nieder und
sahen immer noch ziemlich verblüfft aus, während Dolores sich in der Küche zu
schaffen machte.
Wenige Minuten später kam sie mit einem
übervollen Tablett zurück und entschuldigte sich, daß sie ihnen nicht mehr
anbieten konnte. »Wenn ich gewußt hätte, daß Sie kommen würden, hätte ich
natürlich etwas Besonderes vorbereitet. Sie müssen unbedingt die
Schokoladenmarshmallows mit Kokosflocken versuchen, Mr. Bittersohn.«
Max erbleichte und nahm sich einen
einfachen Cracker. »Vielen Dank, ich fange lieber hiermit an«, murmelte er.
»Wir wissen, daß wir Sie so spät nicht
belästigen sollten«, sprudelte Sarah hervor, »aber wir waren im Krankenhaus bei
Gräfin Ouspenska. Es geht ihr schon viel besser, und wir dachten, es würde Sie
bestimmt interessieren.«
Doch Dolores rückte lediglich ihre Wickler
zurecht und lächelte geistesabwesend. »Das ist ja schön. Aber jetzt zu meinen
Bildern, Mr. Bittersohn. Sie können sich gar nicht vorstellen, was ein Lob von
einem wirklichen Experten für mich bedeutet. Wenn ich selbst das einmal sagen
darf« — und das tat sie dann auch lang und breit. Sie unterbrach sich
lediglich, um die Tassen nachzufüllen und ihren sprachlosen Zuhörern weitere
Köstlichkeiten aufzudrängen. Die Masse an technischen Details, die sie
herunterspulte, war einfach überwältigend. Es stellte sich heraus, daß Dolores
eine richtige Autorität war, was das Kopieren alter Meister betraf, daß sie
ungeheuer stolz auf ihre Arbeit war und daß sie nichts Schlimmes in dem sah,
was sie getan hatte. Alles, was sie wirklich bedauerte, war die Tatsache, daß sie
die ganze Zeit gezwungen gewesen war, anonym zu bleiben.
»Jede Künstlerin braucht Anerkennung«,
seufzte sie. »Ich habe so oft dabeigestanden und gehört, wie die Besucher meine
Werke bewunderten, und ich mußte mir jedesmal mehr oder weniger auf die Zunge
beißen, um ihnen nicht zu sagen, daß sie keinen echten Rubens oder Rembrandt,
sondern eine Dolores Tawne vor sich hatten. Aber nicht jedem Maler wird
schließlich die Ehre zuteil, mit Rembrandt verwechselt zu werden.« Sie kicherte
und nahm sich einen weiteren Marshmallow mit Kokosflocken.
Ȇber die mangelnde Anerkennung
brauchen Sie sich nicht mehr lange zu sorgen«, sagte Bittersohn. »Ich wette,
daß es im Museum bald nur so wimmelt vor Fernsehkameras und daß Ihr Name in
jeder Zeitung stehen wird.«
»Das wäre wunderbar!« Ihre Gastgeberin
blickte verträumt über den Rand eines Kekses. »Aber ich befürchte, das wird
erst Wirklichkeit werden, wenn ich längst nicht mehr unter den Lebenden weile.
Absolute Verschwiegenheit ist immer unsere
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