Madame Hemingway - Roman
wollte, konnte man jeden Abend Picasso sehen, der immer auf exakt demselben Weg von Saint-Germain zu seiner Wohnung in der Rue des Grand-Augustins lief und dabei alles und jeden still beobachtete. Damals konnte sich beinahe jeder selbst wie ein Maler fühlen, der durch die Straßen von Paris streifte; das lag an dem Licht und den Schatten, die auf die Gebäude fielen, den Brücken, die einem das Herz brechen wollten, und den statuenhaft schönen Frauen in ihren schwarzen Etuikleidern von Chanel, die rauchten und ihre Köpfe lachend in den Nacken warfen. Wir gingen in irgendein Café und tauchten in das herrliche Durcheinander ein, bestellten Pernod oder Rhum St. James, bis alles vor unseren Augen wunderbar verschwamm und wir nur noch glücklich waren, gemeinsam dort zu sein.
An einem Abend, an dem wir alle gut gelaunt und stockbetrunken waren, erklärte Don Stewart mir: »Du und Hem, was ihr habt, ist perfekt. Oder nein, nein«, er sprach nun undeutlich,und sein Gesicht verzog sich vor tiefer Empfindung, »es ist heilig. Das war es, was ich sagen wollte.«
»Das ist lieb von dir, Don. Du selbst bist übrigens auch gar nicht so übel.« Ich befürchtete, er würde gleich anfangen zu weinen, und legte ihm sacht die Hand auf die Schulter. Er schrieb lustige Sachen und jeder wusste doch, dass die komischen Autoren tief in ihrem Inneren die ernsthaftesten von allen waren. Er war auch noch nicht verheiratet, hatte jedoch eine Braut, und es war äußerst wichtig für ihn, zu sehen, dass es möglich war, eine Ehe gut und würdevoll zu führen.
Damals glaubten nicht alle an die Ehe. Wer heiratete, drückte damit aus, dass er an die Zukunft und an die Vergangenheit zugleich glaubte, dass Geschichte, Tradition und Hoffnung miteinander verknüpft bleiben und Halt geben konnten. Doch es hatte den Krieg gegeben, der all die guten jungen Männer fortgerissen hatte und mit ihnen unseren Glauben. Man konnte sich also nur noch ins Heute stürzen, ohne an morgen zu denken oder gar an die Ewigkeit. Um sich vom Denken abzuhalten, gab es einen ganzen Ozean aus Alkohol, all die üblichen Laster und genügend Stricke, mit denen man sich erhängen konnte. Doch manche von uns, am Ende nur ein paar wenige, setzten allen Widerständen zum Trotz auf die Ehe. Und auch wenn ich mich nicht gerade als heilig empfand, wusste ich doch, dass wir damit etwas sehr Seltenes und Wahrhaftiges besaßen und dass wir in dieser Ehe, die wir uns aufgebaut hatten und an der wir täglich weiter arbeiteten, sicher waren.
Dies ist keineswegs eine Detektivgeschichte. Ich sage nicht:
Gebt auf das Mädchen acht, das auftauchen wird, um alles zu zerstören.
Sie wird so oder so kommen, ausstaffiert mit einem prächtigen Pelzmantel und feinen Schuhen, die Haare zu einem glatten Bob frisiert, der so eng an ihrem wohlgeformten Kopf anliegt, dass sie wie ein hübscher Otter in meiner Küche sitzt. Ihr ungezwungenes Lächeln. Ihr schnelles, scharfsinniges Geplauder.Und währenddessen liegt Ernest wie ein Despot auf dem Bett im Schlafzimmer, unrasiert und nachlässig gekleidet, liest in seinem Buch und ignoriert ihre Anwesenheit völlig. Zunächst. Auf dem Herd kocht das Teewasser, und ich erzähle eine Geschichte über ein Mädchen, das wir beide vor Ewigkeiten in St. Louis kannten, und wir schließen schnell und ganz selbstverständlich Freundschaft, während in der Sägemühle auf der anderen Seite des Hofes ein Hund zu bellen beginnt, und bellt und bellt und gar nicht mehr damit aufhören will.
Eins
Es begann damit, dass er mich mit seinen wunderschönen braunen Augen fixierte und sagte: »Vielleicht bin ich zu betrunken, um es zu bewerten, aber das klingt gar nicht schlecht.«
Es ist Oktober 1920, und Jazz liegt in der Luft. Ich kenne mich mit Jazz nicht aus, also spiele ich Rachmaninow. Ich spüre, wie sich meine Wangen vom Apfelwein röten, den meine liebe Freundin Kate Smith mir eingeflößt hat, damit ich mich entspanne. Und ich bin auf einem guten Weg. Angefangen bei meinen Fingern, die warm und beweglich werden, lockert der Alkohol meinen gesamten Körper. Ich bin seit über einem Jahr, seit meine Mutter schwer krank wurde, nicht mehr betrunken gewesen und habe das Gefühl vermisst, das sich wie eine Nebelhülle wunderbar behaglich über mein Hirn legt. Ich will an nichts denken, und ich will auch nichts spüren, außer das nur wenige Zentimeter entfernte Knie dieses wunderschönen jungen Mannes.
Das Knie allein reicht mir beinahe schon, aber es gehört
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