Mädchen im Moor
Tochter ist im Gefängnis! Ich war dreimal bei dir –«
»Ick hab jetzt eenen festen Freund, Junge.« Lotte Marchinski hielt sich an Willis Schulter fest und sah ihn aus sich drehenden Augen an. »Een gentleman is er! Jibt mir fuffzig Mark, damit er mir den Hintern verhauen kann! Weiter nichts! Ist det 'n gentleman, wat?« Sie ließ sich wieder gegen die Wand sinken und legte den Zeigefinger an die Nase. »Wat willste denn? Hilde ist ab … det is man gut. Kam mir immer in die Quere bei den feinen Herrn, hat's Geschäft versaut, und saufen konnte se ooch nich! Nun hab ick det Revier alleene … Na und? Wat willste?«
»Ich werde Hilde herausholen!«
»Wat? Biste meschugge, Junge?!« Lotte Marchinski schien nüchterner zu werden. Sie fuhr sich mit beiden Händen in die brandrot gefärbten Haare und zerwühlte sie. »Du willst Hilde aus'n Jefängnis holen?«
»Das ist doch einfach. Sie arbeitet auf einem Außenkommando, im Moor, bei einem Moorbauern. Wenn ich mit 'nem Wagen komme und –«
»Nischts! Nischts!« schrie Lotte Marchinski. »Ick zeig dir an, du Luder! Da hat man mal Ruhe im Revier, und da kommt der Affe und holt se! Du, ick garantier dir: Ick saje der Polente, wat los ist! Laß se brummen –«
»Sie ist deine Tochter, du Aas!« schrie Pfeifen-Willi.
»Det is se. Aber ick weeß bis heute nich, wie ick se bekommen hab! Und sonst? War det Liebe zwischen uns? Mit Vierzehn hat se mir die Kerle schon varrückt gemacht. Mensch, hab ick die durchgehauen! Jeden Tag. Nennt man det Liebe?« Sie war wieder um einen Grad nüchterner geworden. Jetzt konnte sie schon frei stehen ohne die feste Mauer im Rücken. Sie faßte Willi an den Knöpfen seines Mantels und zog ihn einen Schritt näher zu sich heran. »Warum willste se denn rausholen? Gibt doch ooch noch andere Mä'chen …«
»Hilde hat mich immer unterstützt –«
»Unterstützt! Ha!« Lotte Marchinski brüllte vor Vergnügen. »Ausjehalten hat se dir! Und nun fehlt det Jeld.« Sie ließ den Mantelknopf los und wiegte den Kopf hin und her. »Laß se im Moor, Junge –«, sagte sie leiser. »Ich springe ein … aus Familiensinn, vastehste … Komm zu mir … ick bin erst 35 … det is 'n vulkanisches Alter …«
Pfeifen-Willi drehte sich herum und ging davon. Lotte Marchinski spuckte ihm nach und kratzte sich wieder die Brust.
»Da geht er, det vornehme Jüngelchen!« schrie sie ihm mit greller Stimme nach. »Und det sag ick dir … wennste se anbringst, verpfeif ick dir, so wahr ick Lotte heeße …«
Mit schnellen, weit ausgreifenden Schritten verließ Willi das ungastliche Viertel. Erst auf der Hauptstraße verlangsamte er seine Gangart, blieb im Schein der flimmernden Lichtreklamen stehen und zündete sich eine Zigarette an.
Sie ist eigentlich ein armes Schwein, die Hilde, dachte er. Keinen Vater, eine versoffene Mutter, als Kind schon mit den Männern … was hat sie denn auf der Welt, das muß man wirklich fragen? Und er gab sich auch gleich die Antwort auf diese Frage. Sie hat mich, dachte er. Und wie's auch ist, ich liebe sie … und ich hole sie raus aus dem Moor.
Er warf die Zigarette auf das Pflaster und zertrat sie.
Er kam sich ungeheuer mutig vor.
Zweimal im Monat durften Pakete und Päckchen empfangen werden. Das waren Tage, in denen es im großen Speisesaal still war. Die freie Welt kam ins Haus, ein Atem von draußen, ein sichtbarer, fühlbarer, eßbarer Gruß des Lebens, dem die Sehnsucht wachgelegener Nächte galt.
Die Pakete, die eintrafen, wurden vor der Ausgabe erst einer genauen Kontrolle unterzogen. Büchsen wurden in Gegenwart der Empfänger aufgeschnitten, Schachteln geöffnet, Gebäck größeren Formats durchgebrochen oder mit einer dünnen Stahlsonde abgetastet. Diese Vorsicht ließ sich nicht umgehen. Dr. Schmidt hatte schon die abenteuerlichsten Sendungen erlebt. Rauschgift in Marmelade, kleine Feilen in Zahnpastatuben, einmal sogar drei Dynamitpatronen als Einlage in Berliner Ballen. Und heimliche Mitteilungen, auf Fettpapier geschrieben oder in kleinen Metallhülsen … fast bei jeder Sendung wurden sie entdeckt.
Im Dezember waren die Pakete besonders reichlich. Die Adventsonntage waren gekommen, Weihnachten stand vor der Tür, und so enthielten die Pakete bereits weihnachtliches Gebäck, Schokolade, Geschenke, Nüsse, Äpfel, Apfelsinen … alles Dinge, in die man unerlaubte Beigaben verstecken konnte. In eine Walnuß zum Beispiel geht gut der Tabak für eine Zigarette.
Auch Hilde Marchinski hatte ein Paket
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