Maedchenauge
überflog sie mit klarerem Blick als in der Nacht zuvor. Sie waren so gegensätzlich. Ausschweifend und zu Floskeln tendierend das eine, konkret und fast wie ein SMS das andere. Lily überlegte, ob trotzdem ein Zusammenhang bestehen könnte.
Einerseits der Brief von jemandem, der behauptete, der gesuchte Serienmörder zu sein. Und zugleich erklärte, nicht für den Tod von Selma Jordis verantwortlich zu sein. Andererseits die Nachricht, in der jemand angab, den Serienmörder zu kennen. Was außen vor blieb, war eine dritte Person. Jene, die Selma Jordis ermordet hatte. Somit musste es drei Menschen in Wien geben, die mehr oder minder die gesamte, hektisch ersehnte Wahrheit kannten. Zwei von ihnen hatten begonnen, ihr Wissen zu enthüllen. Es sei denn, jemand segelte unter falscher Flagge. Und es waren nicht drei, sondern bloß zwei Personen involviert.
Lily wollte gegen neun Uhr im Büro sein. Um zehn war eine Sitzung mit Belonoz’ Truppe geplant. Deshalb verschob sie ihre Überlegungen auf später. Womöglich würden sich die Antworten von selbst ergeben. Im Volksgarten, beim Treffen mit dem Unbekannten.
Mit leichter Wehmut dachte Lily an die Sorglosigkeit der nächtlichen Stunden, an die Party bei Christoph. Nun hatte sie die Realität wieder fest in ihrem Griff. Sie rief sich noch einmal den jungen, dunkelhaarigen Mann, der ihr gefolgt war, in Erinnerung. Wahrscheinlich war er tatsächlich nur ungeschickt gewesen. Ein dummer Typ, der nicht gespürt hatte, dass allzu großes Interesse auch abschreckend wirken konnte.
Eines hatte Lily noch nicht entschieden, und darüber dachte sie angestrengt nach, als sie ein paar Kirschen aß, sich die Zähne putzte, Schuhe anzog und sich auf den Weg zum Grauen Haus machte. Nämlich ob sie Belonoz und den anderen Kriminalbeamten etwas von den beiden Schreiben erzählen sollte. Etwas in ihr sträubte sich dagegen. Notwendig war es nicht, denn sie war die Ermittlerin in diesem Fall. Was ihr zur Kenntnis gebracht wurde, floss in die Ermittlungen ein. Die Polizei wurde lediglich mit Aufgaben betraut, für die ihre Mithilfe erforderlich war. Alles andere konnte jeder Staatsanwalt allein bearbeiten, wie es ihm gefiel.
Dennoch, so überlegte Lily, konnte ein anderer Blick auf die Briefe nützlich sein. Zumal das Schreiben des angeblichen Täters analysiert werden musste. Wobei dieses Täterwissen auch jenen bekannt war, die als Polizisten ermittelten.
Ein fataler Gedanke.
Stammte der Brief aus den Reihen der Polizei? War er ein Test für die zurückgekehrte Staatsanwältin? Oder gar eine politisch motivierte Falle, durch die sie irgendjemand zu Fall bringen wollte?
Sich hier falsch zu verhalten, konnte verhängnisvolle Auswirkungen zeitigen.
Lily beschloss, das Treffen im Volksgarten abzuwarten. Danach würde genügend Zeit sein, eine Entscheidung zu treffen.
Als sie an ihrem Schreibtisch saß und die Aktenordner vor sich sah, wurde Lily klar, wie viel der Brief des vermeintlichen Täters verändert hatte. Nichts war mehr, wie es gewesen war. Der Blick auf die Ereignisse hatte sich verändert. Einerseits konnte und musste der Mord an Selma Jordis gesondert betrachtet und untersucht werden. Andererseits hatte der Serienmörder in den Fällen Foltinek, Back und Karner den Nimbus des Phantoms eingebüßt. Er war zu einer zwar anonymen, aber konkreten Person geworden, die Deutsch sprach und sich gewählt zu artikulieren verstand. Er hatte sich selbst entzaubert. Und ein klein wenig enttarnt.
Die Möglichkeit, dass Sebastian Emberger der Täter war, schien vom Tisch zu sein. Soweit man dem Brief trauen konnte. Allerdings blieben offene Fragen. Die Zeugenaussagen im Fall Jordis, wonach eine Person in schwarzem Leder gesichtet worden war, behielten ihre Brisanz. Schwarze Lederkleidung war auch Bestandteil der Serienmorde. Als Selma Jordis getötet worden war, hatte noch niemand von diesem Detail gewusst. Lediglich die Ermittler und der Mörder. Und der Voyeur und … nein, das Rätsel war nicht gelöst. Und sollte es tatsächlich zwei verschiedene Mörder gegeben haben, war ein weiteres Rätsel aufgetaucht. Aber keine auch nur halbwegs logische Erklärung.
Die Sitzung mit den Polizisten brachte an sich wenig Neues. Lily bemerkte, wie sehr die meisten Anwesenden nach dem bevorstehenden Wochenende gierten. Belonoz erweckte den Eindruck, geistig nicht völlig präsent zu sein. Stumm lümmelte er auf seinem Stuhl und gab gelegentlich undefinierbare Laute von sich. Lily vermeinte
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