Maedchenauge
Plötzlich war ihr auch sehr warm geworden. Sie spürte den Schweiß auf ihrer Stirn und unter den Achseln.
Sie bemühte sich, durch den Türspion das Gesicht zu erkennen. Unmöglich. Mehr als eine schwarze Silhouette war nicht auszumachen.
Da fing die Gestalt an, sich Lilys Wohnungstür zu nähern.
Lily zwang sich dazu, die Situation kühl zu analysieren. Konnte das jener Mann sein, der sie vor einer halben Stunde verfolgt hatte? Wie war er ins Haus gelangt? Was wollte er hier?
Knapp vor der Tür blieb die Gestalt stehen. Am liebsten hätte Lily aufgeschrien, um die Spannung dieser Situation loszuwerden. Doch ihr Körper war wie gelähmt. Die Gedanken vermengten sich zu einem wirren Chaos. Die nackte, plötzlich ausgebrochene Angst regierte diesen Moment.
Sie sah, wie sich die Gestalt bückte.
Dann begann das Kratzen und Schaben an der Tür. Anfangs recht vorsichtig. Schließlich immer heftiger.
20
Das Auto hielt vor dem Haustor. Eine junge Frau schwang sich aus dem Fahrzeug. Während sie zum Tor schlenderte, setzte sie ihre Kappe auf und korrigierte deren Sitz. Das verlieh ihr Sicherheit. Vor allem deshalb tat sie es, nicht unbedingt wegen der Vorschriften.
Ringsum gab es keine Geräusche. Sogar der übliche Wind hielt sich zurück. Nur wenn man aufmerksam war, konnte man die Fledermäuse sehen, die durch die Nacht schossen.
Auf dem metallenen Feld der Sprechanlage suchte die junge Frau nach der richtigen Taste. Zweimal drückte sie, jeweils etwa eine Sekunde lang.
Nichts geschah, niemand meldete sich, das Tor blieb verschlossen. Nach einer halben Minute wiederholte die Frau die Prozedur. Wieder zweimal drücken, jeweils eine Sekunde lang.
Die junge Frau wartete eine halbe Minute lang. Dann versuchte sie durch die in das Haustor eingelassenen Fenster einen Blick in das dunkle Innere zu ergattern. Schließlich ging sie ein paar Schritte zurück und nahm die Hausfassade in Augenschein. Aus zwei Fenstern drang ein Lichtschimmer.
Sie wandte sich um und machte in Richtung des wartenden Autos ein fragendes Gesicht.
Plötzlich schien sie etwas zu hören. Sie kehrte zum Haustor zurück und beugte sich zur Sprechanlage.
»Hier ist die Funkstreife, mein Name ist Svoboda«, sagte sie. »Mich schickt die Staatsanwaltschaft Wien. Da wäre ein Brief für Frau Doktor Horn.«
»Kommen Sie herein«, sagte die Stimmte. »Zweiter Stock.«
Ein Summen ertönte, die Polizistin warf einen kurzen Blick zum Auto, nickte und trat dann ins Haus. Sie fuhr mit dem Lift hinauf und stellte sich direkt vor den Türspion.
Die Tür öffnete sich langsam und nur so weit, wie es die Türkette gestattete. Ein Gesicht erschien im Spalt.
»Vielen Dank«, sagte Lily und nahm das Kuvert an sich, das ihr entgegengestreckt wurde. »Benötigen Sie eine Unterschrift?«
»Nein, aber eine Legitimation wäre nett. Nur zur Sicherheit …«
Lily hatte es geahnt und präsentierte ihren Dienstausweis.
Svoboda salutierte und lächelte. »Danke, und gleichfalls noch eine gute Nacht, Frau Doktor«
»Übrigens, noch eine kurze Frage«, sagte Lily und erwiderte knapp das Lächeln. »Als Sie heraufgekommen sind … sind Sie zufällig jemandem begegnet?«
»Sie meinen, unten beim Eingang …?«
»Oder im Stiegenhaus.«
Die Polizistin verzog bedauernd das Gesicht. »Mir ist nichts aufgefallen. Aber ich bin mit dem Aufzug gefahren … Gehört habe ich nichts …«
»Kein Problem, nicht so wichtig. Nochmals vielen Dank.«
Die Polizistin lächelte wieder. Doch jetzt bemerkte sie etwas.
Sie ging in die Hocke. Die Wohnungstür bestand, wie in vielen alten Wiener Häusern, aus zwei Flügeln, von denen meist nur einer regelmäßig geöffnet wurde. Mit der Hand fuhr die Polizistin zum Spalt zwischen dem geschlossenen Türflügel und dem Fußboden. Sie rüttelte kurz herum und zog etwas heraus.
»Schauen Sie … das ist da unten gesteckt … Vielleicht eine Nachricht von einem Nachbarn?«
Sie reichte Lily ein dünnes Kuvert.
»Ach … wirklich … das ist mir gar nicht aufgefallen …«
»Ja, das sieht man nur, wenn man vor der Tür steht. Also dann gute Nacht!«
Svoboda salutierte, ging zum Aufzug und fuhr hinunter.
Als sie aus dem Haustor trat, blieb sie kurz stehen und beobachtete die Umgebung. Nach ein paar Sekunden ging sie zum Auto und stieg ein.
»Sag, hast du jemanden rauskommen gesehen?«
Ihr Kollege hatte beim Warten eine Zigarette geraucht. Er warf sie aus dem Fenster und sah seine Kollegin an. »Aus dem Haus, meinst du? Als du oben
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