Maedchenjagd
so waren die meisten Plätze von Presseleuten besetzt. Die Reporter machten Notizen oder gingen die Gänge auf und ab, um Fotos zu schießen. Der Fall war eine Sensation, eine, die den Mörder zu einer Berühmtheit machte. Die Angeklagte Noelle Lynn Reynolds war ein beliebtes Mädchen gewesen, eine ehemalige Cheerleaderin und die Abschlussballkönigin an der Ventura Highschool. Die zarte blonde Frau mit dem runden Gesicht und den taubenblauen Augen sah nicht viel älter aus als auf den Fotos ihres Highschool-Jahrbuchs, obwohl sie kurz vor ihrem dreiundzwanzigsten Geburtstag stand. Nichts an ihrem Äußeren hätte vermuten lassen, dass sie eine kaltblütige Mörderin war, die gefühllos genug war, ihr eigenes Kind um ihrer Freiheit willen zu töten.
Von ihren tiefen Dekolletés und den bauchfreien Tops, mit denen sich Reynolds in den Wochen nach dem Verschwinden ihres zweijährigen Sohnes so stolz in den unterschiedlichsten Nightclubs, Cafés und Strandbars gezeigt hatte, war nichts zu sehen. Sie trug ein konservatives Polyesterkostüm. Ihre großen Silikonbrüste hatte sie unter die beige Jacke gestopft. Sie hatte ihr Haar aus dem Gesicht gekämmt und trug kein Make-up. Das extravagante Partygirl hatte sich für die Geschworenenjury verkleidet.
Lilys Blick wanderte zu Clinton Silverstein, einem Bezirksstaatsanwalt, mit dem sie seit Beginn ihrer Karriere zusammenarbeitete. Einer der Richter ging in Ruhestand, und Clinton hoffte auf seinen Posten. Der vorliegende Fall konnte die Entscheidung bringen. Doch Lilys Meinung nach hatte der Staatsanwalt den falschen Weg gewählt. Er forderte die Todesstrafe. Lily jedoch hielt es für äußerst unwahrscheinlich, dass ein Geschworenengericht aus Venturas Mittelschicht eine junge Frau wie Noelle Reynolds zum Tode verurteilen würde, egal, wie grausam ihr Verbrechen gewesen war. Lily hatte Silverstein mehrfach in ihr Büro gerufen und versucht, ihn umzustimmen. In einem Fall dieser Größenordnung führten die Staatsanwälte gewöhnlich mehrere Anklagepunkte auf, beispielsweise einen Mord ohne Vorsatz oder Totschlag, gemeinsam mit anderen Straftaten, die als geringer eingestuft wurden oder darin bereits enthalten waren. Das bedeutete, dass die Geschworenen im Fall eines Schuldspruchs in einem Anklagepunkt den Angeklagten nicht notwendigerweise in sämtlichen Punkten schuldig sprechen mussten, sondern nur in einem. Der Vorzug dieser Form der Klage war, dass sie den Geschworenen eine Alternative zum Freispruch bot. Wenn eine besondere Schwere der Schuld angeführt wurde, die die Todesstrafe rechtfertigte, hatte sie oft den Zweck, den Angeklagten dazu zu drängen, die außergerichtliche Einigung anzunehmen.
Silverstein aber wollte Gerechtigkeit und hatte nicht die Absicht, Reynolds einen Deal anzubieten. Ein süßer kleiner Junge war unter entsetzlicher Angst und völlig alleingelassen gestorben, getötet von der einen Person, die ihn hätte lieben und beschützen müssen. Der Staatsanwalt argumentierte, dass es einer attraktiven, jungen und manipulativen Frau wie Noelle Reynolds im Gefängnis gut ergehen würde, auch wenn sie ein Kind getötet hatte. Ein Mann mochte der Rache der anderen Gefängnisinsassen ausgesetzt sein, denn selbst Kriminelle verachteten die Mörder von Kindern. Frauen hingegen waren weniger gewalttätig als männliche Straftäter und auch weniger schnell bereit, ihre Zukunft zu riskieren, nur um einem anderen Kriminellen die gerechte Strafe zukommen zu lassen.
Es war ein Teil der Tragödie, dass Noelle Reynolds nicht die einzige Kindsmörderin im Gefängnis sein würde. Wenn Frauen mordeten, dann oft jene Menschen, die sie einst geliebt hatten – ihre Ehemänner, Partner, Eltern oder Kinder.
Meist wurde den Angeklagten im Austausch für ihr Geständnis und das Geld, das sie dem Staat sparten, indem sie den Fall nicht vor Gericht brachten, lebenslange Haft ohne die Aussicht auf Entlassung angeboten oder aber mindestens fünfundzwanzig Jahre im staatlichen Gefängnis. Bei einer unbestimmten Haftdauer, wie etwa bei fünfundzwanzig Jahren bis lebenslänglich, hatte der Angeklagte nach ungefähr zwölf Jahren die Möglichkeit auf Haftentlassung.
Nachdem er Monate damit zugebracht hatte, Autopsiebilder eines Kleinkindes zu studieren, dessen verwesender Körper in eine Mülltüte gestopft und ins Meer geworfen worden war, hatte Silverstein aus diesem Fall seinen persönlichen Rachefeldzug gemacht. Noelle Reynolds hatte nicht gewusst, dass Leichen, die in
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