Maedchenjagd
ganzes Leben gelogen und sich auf Kosten anderer durchgeschnorrt. Nur das eine, was sie wirklich wollte, bekam sie nicht. Sie wollte Mark Stringer, einen Kommilitonen an der UCLA . Sie war so verzweifelt, dass sie alles daransetzte, von ihm schwanger zu werden, überzeugt, dass er sie daraufhin heiraten würde. Als das nicht sofort gelang, hatte sie wahllos Sex mit unzähligen Männern, so lange, bis sie ihr Ziel erreicht hatte. Weder Noelle noch Mark Stringer selbst war zu dem Zeitpunkt bewusst, dass er körperlich gar nicht in der Lage war, Vater zu werden. Mr. Stringer ist zeugungsunfähig. Erstmals in ihrem Leben musste Noelle erleben, zu scheitern und abgewiesen zu werden. Und nun hatte sie auch noch ein Baby, um das sie sich kümmern musste, wobei sie sich doch niemals für jemand oder etwas anderes als ihr eigenes Wohlergehen interessiert hatte. Als ihre Lügen nach und nach ans Licht kamen und ihr parasitäres Leben nicht weiterzuführen war, begann die Angeklagte Pläne zu schmieden, sich dessen zu entledigen, was sie nur als Bürde betrachtete – ihres eigen Fleisch und Bluts, ihres Sohnes, dem kleinen Brandon Reynolds.«
Auf dem Weg zurück zum Tisch der Staatsanwaltschaft blieb Silverstein mit versteinertem Gesicht neben einer großformatigen Fotografie von Brandon stehen, die auf einer Staffelei aufgestellt worden war. Der Junge hatte weißblondes Haar und riesige blaue Augen, und auf seinem Gesicht lag ein fröhliches Lächeln. »Sieht das hier für Sie wie eine Bürde aus, die man in eine Mülltüte stopfen und ins eisige Meer werfen musste, bis der kleine, geschundene Körper dort angeschwemmt wurde, wohin er nach Meinung seiner Mutter gehörte, nämlich zwischen den Fäkalien in der Kläranlage von Oxnard? Das glaube ich kaum.«
Mehreren der weiblichen Geschworenen liefen Tränen über die Wangen, und selbst einige Männer mussten im Angesicht solcher Verkommenheit mit den Tränen kämpfen. Silverstein beugte sich über den Tisch der Staatsanwaltschaft und beriet sich kurz mit seiner Rechtspflegerin Beth Sanders, einer Frau um die vierzig, mit braunem Haar und einer ausgeprägten Kieferpartie. »Als die Angeklagte zu ihrem Vater floh, weil sie erwartete, dass er sich wie immer um ihre Probleme kümmern würde, war Dr. Reynolds so aufgebracht, dass er sich weigerte, seine Tochter und ihr kleines Baby bei sich aufzunehmen. Außerdem strich er ihr die finanziellen Zuwendungen und zwang sie, sich einen Job zu suchen und sich und den kleinen Brandon selbst durchzubringen. Ms. Reynolds bat ihre Freunde in Ventura um Hilfe, doch mittlerweile hatten sie alle ihre eigenen Verpflichtungen.«
Immer wieder kam es vor, das Richter einschliefen, besonders in diesem Stadium der Verhandlung. Bevor ein Fall Lilys Gerichtssaal erreichte, gab es eine Anhörung im Municipal Court. Eine solche Vorverhandlung war eine Art Miniprozess ohne Geschworene. Das Municipal Court traf die Entscheidung, ob der Angeklagte sich vor dem übergeordneten Landgericht verantworten musste. Natürlich hatte Lily die Mitschrift der Vorverhandlung durchgelesen und kannte die Fakten des Falles genau. Sie war nie eingeschlafen, manchmal aber schweiften ihre Gedanken ab. Die Nähe zu Richard Fowler lenkte sie sehr ab. Sie versuchte, nicht zu ihm hinzusehen, aber sie war auch nur ein Mensch und konnte nicht umhin, sich an das erste Mal, das sie miteinander geschlafen hatten, zu erinnern.
Die Bezirksstaatsanwaltschaft hatte eine Party gegeben. Gewöhnlich mied sie solche Veranstaltungen, aber es war ihr Geburtstag gewesen und niemand außer ihrer Mutter hatte daran gedacht. Ihr Ehemann hatte es vergessen. Ihre Tochter hatte es vergessen. Und hätte ihre Mutter ihr keine Karte geschickt, hätte selbst Lily es vergessen. Diese Nacht aber würde sie nie vergessen. Sie hatte ungekannte Lust erlebt, hatte ihre Ehe mit Shanas Vater beendet, und eine Kette von Ereignissen war in Gang gesetzt worden, die möglicherweise einen Vergewaltiger an ihre Haustür geführt hatte und sie zu einer Mörderin hatte werden lassen.
Frühling 1993
Ventura, Kalifornien
Die Elephant Bar war bis auf den letzten Platz besetzt mit Anzugträgern sowohl der männlichen als auch der weiblichen Variante. Seitdem das neue Verwaltungszentrum fertiggestellt war, hatte die Juristengemeinde die Bar zu ihrem Sitz erklärt. In der Bar herrschte eine
Casablanca
-Atmosphäre, in das Jahr
1993
versetzt, mit weißgetünchten Wänden, Deckenventilatoren und einem
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