PR TB 165 Nomaden Des Meeres
1.
Kurz vor Sonnenaufgang sahen sie das erste Segel am Horizont. Noch
spiegelte sich kein Sonnenstrahl auf den langgezogenen Wellenkämmen.
Aber da war die Ahnung von Bergen und Buchten hinter dem Dunst, der
den Horizont verschleierte. Hinter den einzelnen Felsen des
vorgelagerten Kaps glitt ein langgestrecktes Schiff entlang. Ein
schlanker, scharfer Bug schnitt durch das Wasser. Das Segel hing fast
schlaff herunter, aber zwanzig lange Ruder auf jeder Seite bewegten
sich in kraftvollem Takt und verliehen dem ägyptischen
Küstensegler eine beachtliche Geschwindigkeit. Das schwache
Pochen
der großen Trommel war so gedämpft, daß die
Herrin der LOB DES PHARAO schlafen konnte.
Das Ziel der Prunkbarke, die sonst nur den Nil befuhr, war Keftiu,
die Insel Kreta. Fünfzig Männer befanden sich an Bord.
Flußsoldaten des Pharao, einige ausgesuchte Bogenschützen,
ein paar Sklaven. Eine junge und eine ältere Zofe für die
Herrin des Schiffes.
Das fast kiellose, flachbödige Schiff besaß einen
hochgezogenen Vordersteven in der Form der Papyrusblüte. Die LOB
DES PHARAO bestand nicht aus Binsen, sondern aus Holz, das entlang
der Küste von Gubal ins Nildelta geflößt worden war.
Die Handwerker des Pharao hatten es so gut gebaut, wie sie es
verstanden. Der erste schwere Sturm hätte die LOB DES PHARAO
jedoch in ihre Einzelteile zerlegt.
Die vierzig Ruder beschrieben eine gekrümmte Linie in der
Luft und wirbelten einen Regen von Wassertropfen hoch, dann wurden
die langen, weißen Blatter eingesetzt und durchgezogen. Ein
braunhäutiger Mann mit weißem Stoffschurz, der bis über
die Knie reichte und um die Hüften mit einem dreifach
handbreiten Ledergürtel gehalten wurde, lehnte auf der obersten
Stelle des Heckaufbaus, den Balken des Steuerruders zwischen dem
rechten Arm und dem Körper. Cheper, so hieß der
dreißigjährige Steuermann, wachte über den Schlaf der
Herrin und über das Schiff.
Dort, wo sie in der Nacht mit gutem Wind aus Osten die winzige,
namenlose Insel passiert und den Schwarm spielender Delphine im
geheimnisvoll leuchtenden Wasser gesehen hatten, ging jetzt die Sonne
auf. Der Horizont färbte sich grau, dann weiß, schließlich
rosenblattfarben. Aber noch immer kam kein Wind auf. Cheper fröstelte
und zog den Wollmantel enger um seine Schultern. Die feinen Härchen
und das Leder des vergoldeten Helmes waren feucht vom Morgentau.
Das Segel voraus wurde deutlicher. Ein rotes Segel, etwas praller
gefüllt als das riesige rotgoldene Rahsegel der LOB DES PHARAO.
Es wehte also dort vorn ein ablandiger Wind; nicht selten im Sommer
und in diesem Bereich des Meeres.
Leichte Schritte näherten sich.
Über das feuchte Deck kam die ältere der beiden Zofen
auf Cheper zu. Sie rieb ihre großen, dunklen Augen und gähnte.
»Sollen wir die Herrin wecken? Hast du das Segel gesehen?«
»Neit-aqer«, sagte Cheper mit seiner dunklen, rauhen
Stimme, »lassen wir die Herrin schlafen. Sie hat die halbe
Nacht gewacht.«
»Aber, das Segel!«
Cheper lachte lautlos. Er deutete geradeaus und sagte:
»Es wird zwei Stunden dauern, bis wir das Schiff treffen.
Ist es ein Handelsschiff, wird es Eile haben. Ist es ein Pirat, so
werden wir kämpfen. Lasse die Herrin Asyrta ruhen.«
»Wann, denkst du, Steuermann, werden wir Knossos erreichen?«
»Vielleicht liegen wir bei gutem Wind schon heute im Hafen«,
sagte er. Für einen Moment gerieten die Riemen auf Steuerbord
ein wenig außer Takt, aber sie fingen sich wieder und zogen das
Schiff weiter geradeaus auf die ferne Insel zu. Die Sonnenstrahlen
vergoldeten die Wellenspitzen, lösten den Dunst auf und trafen
auf die hohen Berge der Insel. Hoch über dem Horizont zeigten
sich die hellen Dreiecke der Gipfel. Das Segel dort vorn schien
praller zu werden. Unruhig sah sich Cheper um; wann würde der
Wind sein Schiff erreichen? Die Männer an den Riemen waren
rechtschaffen müde, denn sie hatten seit sechs Stunden
ununterbrochen gerudert, seit der Wind sich gelegt hatte.
Als die feuerrote Kugel der Sonne sich riesengroß aus dem
Meer geschoben hatte, war das andere Schiff voraus.
Es hielt genau auf die LOB DES PHARAO zu.
Die ersten wärmenden Sonnenstrahlen trafen Tauwerk, Holz und
Segel des ägyptischen Nilseglers und ließen die
Feuchtigkeit verdampfen und verdunsten. Cheper hustete, spuckte über
die Reling und sagte laut: »Nunmehr solltest du die Herrin
wecken, Neit-aqer!« Sie nickte besorgt und kletterte die Stufen
des Niedergangs hinunter. Kurze Zeit später kam
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