Maenner fuers Leben
an – schockiert, sprachlos. Ich fehle ihm? Das kann nicht die Wahrheit sein. Aber andererseits – Leo lügt nicht. Leo sagt immer die kalte, harte Wahrheit. Friss oder stirb.
«Es tut mir leid, Ellen», sagt er.
«Was tut dir leid?», frage ich und denke, es gibt zwei Arten von Leidtun. Entweder man bereut wirklich und ist voller Bedauern. Oder man will sich einfach entschuldigen und sonst nichts.
«Alles», sagt Leo. «Alles.»
Eine umfassende Antwort , denke ich. Ich strecke die Finger der linken Hand und schaue hinunter auf meinen Ring. Ich habe einen dicken Kloß im Hals und kann nur flüstern. «Das ist Schnee von gestern», sage ich, und ich meine es so. Es ist Schnee von gestern.
«Ich weiß», sagt Leo. «Aber es tut mir trotzdem leid.»
Ich blinzele und schaue weg, aber ich kann meine Hand immer noch nicht wegziehen. «Das muss es nicht», sage ich. «Es ist alles okay.»
Leos dichte Augenbrauen, die so sauber geformt sind, dass ich ihn einmal scherzhaft bezichtigt habe, sie zu zupfen, heben sich gleichzeitig. «Okay?»
Ich weiß, was er andeuten will, und deshalb sage ich hastig: «Mehr als okay. Alles ist wunderbar . Genau so, wie es sein sollte.»
Er macht ein spitzbübisches Gesicht, wie er es immer tat, wenn ich ihn am meisten liebte und fest daran glaubte, dass zwischen uns alles gut werden würde. Mein Herz krampft sich zusammen.
«Na, Ellen Graham , angesichts dessen, wie okay jetzt alles ist – wollen wir nicht ausprobieren, wie es wäre, Freunde zu sein? Meinst du, das könnten wir?»
Ich wäge all die Gründe ab, weshalb wir es lieber nicht ausprobieren sollten, was dabei zu Schaden kommen könnte. Aber ich merke, dass ich einfach kühl die Achseln zucke, und höre mich leise sagen: «Warum nicht?»
Dann ziehe ich meine Hand unter seiner weg, einen Augenblick zu spät.
Vier
Wie betäubt verlasse ich das Restaurant; meine Gefühle sind eine Mischung aus Melancholie, Groll und Vorfreude. Es ist eine seltsam beunruhigende Mixtur, und der eisige Regen, der jetzt in schrägen Schleiern vom Himmel weht, macht alles noch schlimmer. Kurz überlege ich, ob ich den weiten Weg nach Hause zu Fuß gehen soll; fast möchte ich mich kalt und nass und elend fühlen. Aber dann lasse ich es doch bleiben. Es hat keinen Sinn, mich zu suhlen; ich habe keinen Grund, aufgeregt oder auch nur nachdenklich zu sein.
Also gehe ich zur U-Bahn und marschiere zielstrebig über die glänzenden Gehwege. Gute, schlechte und sogar ein paar profane Erinnerungen an Leo schwirren mir im Kopf herum, aber ich bin nicht bereit, mich mit einer davon zu beschäftigen. Schnee von gestern , murmle ich, als ich die Treppe zur Union Station hinuntergehe. Unten auf dem Bahnsteig versuche ich, nicht in die Pfützen zu treten und mich sonst wie abzulenken. An einem Zeitungsstand kaufe ich mir eine Rolle Karamelldrops, ich überfliege die Schlagzeilen der Boulevardzeitungen, belausche neben mir eine hitzige Diskussion über Politik und beobachte eine Ratte, die unten am Gleis entlanghuscht. Alles – nur nicht das Gespräch mit Leo im Kopf zurückspulen und wieder abspielen. Wenn diese Schleuse einmal offen ist, werde ich zwanghaft alles analysieren, was gesagt wurde, jedes Wort und auch den störenden Subtext, der immer schon da war, wenn wir beide miteinander gesprochen haben. Was hat er damit gemeint? Warum hat er dies oder jenes nicht gesagt? Empfindet er immer noch etwas für mich? Ist er jetzt auch verheiratet? Und wenn ja, warum hat er es nicht erzählt?
Ich sage mir, dass das alles nicht mehr wichtig ist. Es ist schon seit langem nicht mehr wichtig.
Endlich fährt der Zug ein. Es ist Rushhour, die Wagen sind voll, und es gibt nur Stehplätze. Ich zwänge mich in einen hinein und gerate neben eine Mutter und ihre Tochter, die im Grundschulalter ist. Zumindest glaube ich, dass es sich um Mutter und Tochter handelt; sie haben die gleiche spitze Nase und ein ähnliches Kinn. Das kleine Mädchen trägt einen zweireihigen Matrosenmantel mit Ankern auf den goldenen Knöpfen. Sie reden darüber, was es zum Abendessen geben soll.
«Makkaroni mit Käse und Knoblauch-Toast?», schlägt die Tochter vor und macht ein hoffnungsvolles Gesicht.
Ich warte auf den mütterlichen Widerspruch – Das hatten wir erst gestern Abend –, aber die Mutter lächelt nur und sagt: «Ja, das ist eine fabelhafte Idee für einen so verregneten Tag.» Ihre Stimme ist so warm und wohltuend wie die gesättigten Fettsäuren, die sie zusammen genießen
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