Maenner fuers Leben
Gefühl, sie zu kennen: den stämmigen Mann, der sich über eine Musicbox beugte, die elegante Frau im Aufzug, die einen Blick über die Schulter warf, das dunkelhäutige Kindermädchen mit dem milchweißen Baby in den Armen. Ich kam zu dem Schluss, dass man ein Objekt wirklich kennen musste, um gute Fotos zu machen. Wenn ich solche Bilder machen könnte , dachte ich, dann hätte ich meine Erfüllung, auch ohne Freund .
In der Rückschau ist es völlig klar, was ich als Nächstes zu tun hatte, aber es war Margot, die mich auf das Offenkundige hinweisen musste – einer der vielen Gründe, weshalb man Freundinnen hat. Sie war eben von einer Geschäftsreise aus Los Angeles zurückgekommen, und sie rollte ihren Koffer herein, blieb am Küchentisch stehen und nahm eins meiner eben entwickelten Fotos in die Hand. Es zeigte einen aufgelösten Teenager; das Mädchen saß auf dem Randstein in der Bedford Avenue in Brooklyn, und der Inhalt ihrer Handtasche lag um sie herum auf der Straße. Sie hatte langes, lockiges rotes Haar und war schön auf eine jugendliche, ungeschminkte Weise, die ich zu der Zeit noch nicht vollständig erkannte, weil ich selbst so jung war. Sie streckte eine Hand aus, um einen zerbrochenen Spiegel aufzuheben, und mit der anderen berührte sie ganz leicht ihre Stirn.
«Wow», sagte Margot und hielt sich das Foto dicht vor die Augen. «Das ist ein unglaubliches Foto.»
«Danke», sagte ich bescheiden, aber doch stolz. Es war wirklich ein unglaubliches Foto.
«Warum ist sie so traurig?», fragte Margot.
Ich zuckte die Schultern; ich sprach selten mit den Leuten, die ich fotografierte – nur, wenn sie mich dabei erwischten und mich ansprachen.
«Vielleicht hat sie ihr Portemonnaie verloren», sagte Margot.
«Vielleicht hat sie auch gerade mit ihrem Freund Schluss gemacht», sagte ich.
Oder vielleicht ist ihre Mutter eben gestorben .
Margot studierte das Bild weiter und stellte fest, dass die leuchtend roten Kniestrümpfe dem Mädchen eine altmodische Anmutung gaben. «Obwohl», fügte sie mit ihrer typischen Modebesessenheit hinzu, «Kniestrümpfe kommen gerade wieder. Ob es dir gefällt oder nicht.»
«Gefällt mir nicht», sagte ich. «Aber ich nehm’s zur Kenntnis.»
Und dann sagte sie: «Deine Fotos sind einfach genial, Ellen.» Sie nickte ernsthaft, während sie ihr weiches, honigblondes Haar zu einem Knoten schlang und mit einem Drehbleistift feststeckte. Es war eine Technik von beiläufiger Coolness, die ich schon hundertmal nachzumachen versucht hatte, aber ich bekam es nie richtig hin. Wenn es um Haare oder Mode oder Make-up ging, blieben alle meine Versuche, Margot zu kopieren, irgendwie auf halber Strecke stehen. Jetzt nickte sie noch einmal und sagte: «Du solltest aus dem Fotografieren einen Beruf machen.»
«Findest du?», sagte ich beiläufig.
Seltsam, aber daran hatte ich noch nie gedacht. Ich weiß nicht, wieso ich nicht selbst auf die Idee gekommen war. Vielleicht weil ich befürchtete, mein Enthusiasmus könnte meine Fähigkeiten übersteigen. Der Gedanke, mit einer Sache zu scheitern, die mir so viel bedeutete, war unerträglich. Aber Margots Meinung war mir wichtig, und so unaufrichtig sie mit ihren Südstaaten-Nettigkeiten und Komplimenten anderen gegenüber manchmal war, mir gegenüber war sie es nie. Mir gegenüber nahm sie nie ein Blatt vor den Mund – auch ein Zeichen echter Freundschaft.
«Ich weiß es», sagte sie. «Du solltest es versuchen. Mach diese Sache richtig.»
Also befolgte ich Margots Rat und sah mich nach einem Job in der Fotobranche um. Ich bewarb mich auf jede Assistentenstelle, die ich finden konnte – sogar bei ein paar billigen Hochzeitsfotografen auf Long Island. Aber ohne formelle Ausbildung wurde ich wiederum überall abgelehnt, und schließlich nahm ich eine minimal bezahlte Stelle als Laborantin in einer kleinen Foto-Boutique mit antiken Geräten an. Irgendwo musste ich ja anfangen, sagte ich mir, als ich an meinem ersten Tag mit dem Bus zum öden unteren Ende der Second Avenue fuhr und in einem zugigen Hinterzimmer, in dem es nach Zigaretten und Putzmittel roch, mein Erdnussbutter-Marmeladen-Sandwich auspackte.
Aber wie sich herausstellte, war es der ideale erste Job, und zwar dank Quynh, der jungen Vietnamesin, die mit dem Sohn des Eigentümers verheiratet war. Quynh sprach nur wenig Englisch, aber sie war ein Genie im Umgang mit Farbe, und sie brachte mir mehr über individuelles Entwickeln bei, als ich in jedem Kurs hätte lernen
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