Märchen, Der Falke unter dem Hut ab 9 Jahre
dichtverzweigten Krone rauscht der Wind der Jahrhunderte. Seine Wurzeln durchdringen unsere ganze Erde.
Jedes Volk, ob groß oder klein, ist stolz auf seine Märchen und hütet diese Zeugnisse aus vergangener Zeit wie einen kostbaren Schatz. Daß uns unzählige der zauberbunten Geschichten voller Poesie, Witz und tiefgründiger Weisheit erhalten geblieben sind, verdanken wir den Märchenerzählern der Vergangenheit, die in Wirklichkeit die ersten Dichter waren. Junge und alte Menschen haben irgendwann und irgendwo wißbegierig und andächtig gelauscht, wenn Märchen erzählt wurden, tat sich doch in diesen Geschichten voller Wunder die weite Welt mit ihrer Schönheit, ihren Lockungen und Abenteuern auf, eine Welt, in der auch der Arme und Ärmste sein Glück fand: ein Leben ohne Hunger, ohne sinnlose Plackerei und Knechtschaft, ein Leben, in dem die Gerechtigkeit über das Unrecht triumphierte.
Auch heute, in einer Zeit der riesenhaft anwachsenden Technik, die schon viele der alten Träume eingeholt und überholt hat, finden die Märchen immer wieder zahlreiche Freunde, und nicht nur bei den Jüngsten. Was ist es, das die Jugend unserer Tage stets aufs neue zu den Märchen hinzieht? Ist es nur die Sehnsucht nach dem Abenteuer, ist es die Vielfalt der Zauber- und Wunderdinge, die Pracht der Schatzgrotten, die Fremdartigkeit ferner Länder und ihrer Menschen?
Seit vielen Jahren erzähle ich Märchen und sehe und erlebe, was meine Zuhörer bewegt. Hin und wieder stelle ich die Frage: „Warum liebt ihr die Märchen?“ Die Antworten lauten meist: „Warum? Das ist schwer zu sagen. Weil gezaubert wird... weil es darin spannend zugeht... weil der Gute immer gewinnt und der Böse bestraft wird..
Es ist die Weisheit des Märchens, die uns heute ebenso bewegt wie die Zuhörer in alter Zeit, der Kampf der guten Kräfte gegen das Böse. Er wird geführt aus der Gewißheit, daß alles menschliche Leiden einmal sein Ende findet, daß der Arme nicht für alle Zeiten arm bleiben muß, daß das Glück der gewinnt, der sich anstrengt und klug ist und dem es darum von Rechts wegen zusteht, und daß das Böse erkannt und vernichtet werden muß. Heute wie einst sehnt sich der Mensch, ganz besonders aber das Kind nach einer so einfachen und begreifbaren Gerechtigkeit.
Der Märchenerzähler unserer Tage ist stets auf der Suche nach unbekannten, abwechslungsreichen Stoffen. So forsche auch ich immer wieder in den vielen Märchensammlungen der Welt nach neuen, interessanten Geschichten. Dabei fand ich eine beachtliche Zahl von Märchen besonderer Art. Sie waren witzig und heiter im Inhalt, auch abenteuerlich und spannend in der Handlung, doch wurde der Kampf zwischen Gut und Böse darin anders ausgefochten als in den bekannten Zaubermärchen.
Einem Hirtenbüblein gelingt es, dem König drei schier unlösbare Fragen zu beantworten. Wie kam es zu solcher Überlegenheit? - Ein armer Mann schlägt sich mit dem Teufel herum und gewinnt die Wette. Wer hat ihm dabei geholfen? -Der jüngste der Brüder, als Aschenhans und Dümmling geschmäht, geht beherzt in den gefürchteten Wald, und gerade er wird mit dem Trollungeheuer fertig. Welchem Wunder hat er das zu verdanken? - Und welcher gute Geist gab dem armen chinesischen Gefangenen den Rat, mit Hilfe eines gewöhnlichen Birnenkerns die hohen Beamten des Kaisers und ihn selbst zum Eingeständnis ihrer Unredlichkeit zu zwingen?
Die Kraft, die diese Märchenhelden zu ihren erstaunlichen Leistungen befähigte, war nicht das Wunder. Dank ihrer Furchtlosigkeit vor aufgeblasenen Unholden und Riesen, dank ihrer Kühnheit und ihres Selbstbewußtseins gegenüber hochgestellten Herren und reichen Geizhälsen konnten sie im rechten Augenblick das Richtige tun oder sagen und sich selbst, aber auch anderen helfen. Im Unterschied zu den Geschichten, in denen Zauberdinge die Wendung zum Guten bewirken, bringt in diesen Märchen die Klugheit und Pfiffigkeit der einfachen Menschen Rettung aus Drangsal und Not.
Was für eine stattliche Zahl gewitzter und listiger Leute, was für Schlauberger, Schalksnarren und Weise sind doch in unseren Märchen lebendig geblieben!
Immer waren sie die Lieblinge des Volkes, in allen Ländern begegnen wir ihnen wieder, denn ihre Späße und Geschichten wanderten um die Welt. Von Hodscha Nasreddin, dem Urbild eines weisen Schelms und Volkshelden, gibt es Hunderte von Schwänken und Anekdoten. Seine Verwandten leben in der Volksliteratur vieler Länder. So verstand es unser
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