Märchen
womöglich gar der Herrgott selber, der ihn für das bestrafen wollte, was er dem Küster angetan hatte, obendrein noch in Gottes eigenem Haus.
Der nächste Tag war ein Sonntag, und als die Dorfbewohner mit dem Pfarrer und dem Küster an der Spitze zur Kirche kamen, da fanden sie Rupp Rüpel kalt und steif vor der Kirchentür liegen.
Aber es war weder ein Gespenst noch der Herrgott im Himmel, der seine Hand nach Rupp Rüpel ausgestreckt hatte, es war die schwere Kirchentür gewesen. Sie war hinter ihm zugeschlagen und hatte sein Gespensterlaken festgeklemmt, so daß er nicht mehr los kam.«
»War er tot?« fragte ich, obwohl ich wußte, wie es war.
»Nein, tot war er nicht«, sagte Großmutter. »Aber lebendig war er auch nicht mehr, o nein! Denn das Blut war ihm ja in den Adern zu Eis gefroren, und es taute nie wieder auf. Und auf diese Weise wurde Rupp Rüpel zu einem Gespenst. So ergeht es dem, der im Gotteshaus Unfug treibt! Weder der Pfarrer noch die Gemeinde wußte, was sie mit ihm machen sollten.
Begraben konnten sie ihn ja nicht, wenn er nicht richtig tot war. Darum hoben sie ihn einfach auf und lehnten ihn, so
stocksteif, wie er war, an die Kirchenmauer. Und da stand er dann.«
»Wie lange denn? « fragte mein Bruder, obwohl wir es schon so oft gehört hatten.
»Hundert Jahre lang«, sagte Großmutter. »Noch lange nachdem der Küster schon tot und begraben war und der Pfarrer ebenfalls, stand Rupp Rüpel da und spukte, daß die Leute vor lauter Entsetzen weite Umwege machten. Keiner wollte in seine Nähe kommen.«
»Aber wie war das noch mit der Magd des Pfarrers? « fragte mein Bruder, und ich kriegte eine Gänsehaut, denn jetzt fing es erst richtig an.
»Damals wohnte im Pfarrhof schon lange ein neuer Pfarrer«, sagte Großmutter. »Und er hatte eine Magd, die sich vor nichts auf der Welt fürchtete, nicht vor Gespenstern und Teufeln und nicht vor Unholden oder sonstigem Höllenpack.
Nun wurde an einem Herbstabend im Pfarrhof ein Fest gefeiert.
Es waren viele junge Leute da und darunter ein richtiger Tollkopf, der wissen wollte, ob sich die Magd denn wirklich vor gar nichts fürchte. ›Wenn du tatsächlich so mutig bist, dann kannst du ja mal zur Kirche raufgehen und Rupp Rüpel herholen. Tust du das, kriegst du fünf Kronen für einen Kleiderstoff von mir‹, sagte er, denn er war ein reicher Pinkel. Die Magd lachte nur und sagte, diesen Kleiderstoff habe sie schon so gut wie in der Tasche.
Und sie raus in die dunkle Nacht und rauf zur Kirche. Da nahm sie Rupp Rüpel auf den Rücken und trug ihn zum Pfarrhof.
Geradewegs in den großen Eßsaal trug sie ihn, und da warf sie ihn auf die Dielen, daß es nur so krachte. Wie ein Rauschen ging es durch den Saal, denn so ein mutiges Mädchen hatte noch keiner je gesehen. Und der Bursche, der sie losgeschickt hatte, kramte auch sofort fünf Kronen für einen Kleiderstoff hervor.
›So, und jetzt kannst du Rupp Rüpel wieder zurückbringen‹, sagte er. Tja, das hatte er sich so gedacht!
›Wir haben nur abgemacht, daß ich ihn herhole‹, sagte die Magd.
›Zurückbringen kannst du ihn selber.‹
Aber das wagte der Bursche natürlich nicht. Also mußte er der Magd noch einmal fünf Kronen geben, damit sie es tat, mit weniger gab sie sich nicht zufrieden.
Und dann stiefelte dieses mutige Mädchen wieder in die Dunkelheit hinaus. Mit Rupp Rüpel auf dem Rücken kletterte sie den Kirchhügel bergan, und Angst hatte sie auch jetzt nicht. Kaum aber war sie bei der Kirche angekommen, da kriegte Rupp Rüpel sie zu packen.«
Als Großmutter das sagte, gefror auch uns das Blut in den Adern.
»Da kriegte Rupp Rüpel sie zu packen« - daß es so furchtbare Worte überhaupt geben konnte!
»Und dann krallte er ihr seine kalten Gespensterfinger um den Hals, das hat er doch gemacht, nicht? « fragte mein Bruder, so als hätte er es noch nie gehört.
»Genau das machte er«, sagte Großmutter. »Denn er wollte die Magd zwingen, ihn zum Grab des Küsters zu tragen, damit er ihn um Verzeihung dafür bitten konnte, daß er ihn so fürchterlich erschreckt hatte, vor so etwa hundert Jahren. Und die Magd mußte gehorchen, denn das muß man, wenn einem Gespensterhände die Kehle zuschnüren, sonst nimmt es ein schlimmes Ende. Sie schleppte Rupp Rüpel also zum Grab des Küsters, und dort bat er den Küster mit seiner grausigen Gespensterstimme um Verzeihung«, sagte Großmutter.
»Und da kam aus dem Grab eine andere hohle Gespensterstimme, es war die des
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