Märchen
im Armenhaus lag Malin und konnte nicht schlafen.
Sie stand auf und ging hinaus auf den Kartoffelacker. Licht und klar wölbte sich der Frühlingshimmel über das dunkle Armenhaus, über die stumme Linde, über das schlafende Dorf. Im ganzen Norka-Kirchspiel war wohl niemand wach außer Malin, und doch spürte sie, daß die Nacht voller Leben war. In den Blättern und Blüten, in den Gräsern und Bäumen lebte und webte der Lenz, ja im kleinsten Kraut, im winzigsten Halm war Leben.
Nur die Linde war tot. Schön und stumm stand sie auf dem Kartoffelacker und war tot. Malin legte ihre Hand an den Stamm.
Und da spürte sie plötzlich, wie bitter es für die Linde war, ganz allein ohne Leben zu sein und nicht klingen zu dürfen. Und es kam Malin in den Sinn, dem toten Baum ihre Seele zu schenken.
Dann würde das Leben in die kleinen, grünen Blätter und die zierlichen, feinen Zweige strömen, und dann würde die Linde so jubelnd klingen, daß alle Nachtigallen in allen Hainen und Wäldern auf Erden es hören würden.
Ja, dann klingt meine Linde, dachte Malin, dann singt meine Nachtigall, und dann wird alles schön und froh im Armenhaus.
Doch dann dachte sie: Aber ich bin dann nicht mehr da, denn ohne Seele kann niemand leben auf Erden. Doch in der Linde lebe ich weiter, bis zum Ende der Zeit wohne ich dann in meinem kühlen, grünen Haus, und die Nachtigall singt für mich an den Abenden und in den Nächten des Frühlings. Und alles wird froh.
Ja, es kam ihr in den Sinn, ihre Seele der Linde zu schenken...
Im ganzen Kirchspiel war niemand wach, und deshalb weiß auch niemand so recht, was in jener fernen Frühlingsnacht in Norka vor dem Armenhaus geschah. Nur eins weiß man gewiß ...
daß bei Morgengrauen alle Spittler von der lieblichsten Musik draußen auf dem Kartoffelacker geweckt wurden; eine klingende Linde und eine singende Nachtigall weckten sie zu einem Tag der Herzensfreude. Denn so wunderlieblich klang die Linde, so herzinnig sang die Nachtigall, daß alles mit einem Mal schön und froh wurde im Armenhaus.
Malin aber war nicht mehr dort, und sie kehrte auch niemals wieder. Die Spittler vermißten sie sehr und forschten und fragten, wo sie wohl sein könnte. Aber Jocke Kis, der nicht ganz richtig war im Kopf, sagte, daß er nur eine einzige Stimme gehört habe, als die Linde klang. Und die flüsterte:
»Ich bin es ... Malin.«
Der Drache mit den roten Augen
ch denke oft an unseren Drachen. Nie werde ich jenen Morgen im April vergessen, an dem ich ihn zum erstenmal sah. Mein IBruder und ich kamen in den Schweinestall. Wir wollten die kleinen Ferkel anschauen, die in der Nacht geboren worden waren.
Da lag die große Muttersau, und im Stroh drängelten sich zehn Ferkelchen an sie. Ganz allein für sich in einer Ecke stand jedoch ein kleiner, schwächlicher grüner Drache mit bösen Augen.
»Was ist das denn? « fragte mein Bruder. Er war so erstaunt, daß er kaum sprechen konnte.
»Ich glaube, das ist ein Drache«, sagte ich. »Die Sau hat zehn Ferkel und einen Drachen bekommen.«
Und so war es auch. Wie es zugegangen war, wird man wohl nie erfahren. Ich glaube, die Muttersau war genauso erstaunt wie wir. Besonders entzückt war sie von ihrem Drachenkind nicht, aber sie gewöhnte sich allmählich daran. Nur daß es sie jedesmal biß, wenn es trinken wollte, daran gewöhnte sie sich nie. Das konnte sie so wenig leiden, daß sie sich schließlich weigerte, ihm etwas zu trinken zu geben.
Mein Bruder und ich mußten daher jeden Tag hinüber zum Schweinestall gehen, um dem Drachen Futter zu bringen. Wir brachten ihm kleine Kerzenstummel, Schnüre, Korken und alles, was Drachen gern essen. Bestimmt wäre der Drache verhungert, wenn mein Bruder und ich nicht immer wieder mit unserem Korb zum Schweinestall gegangen wären. Alle Ferkel grunzten vor Hunger, wenn wir die Tür zum Schweinestall öffneten, der
Drache aber stand einfach ganz still da und starrte uns aus seinen roten Augen an. Nicht einen Ton sagte er, doch wenn er fertiggegessen hatte, rülpste er jedesmal ziemlich laut, und dann machte er ein zufriedenes, rauschendes Geräusch, indem er mit dem Schwanz wedelte.
Wenn eins der Ferkel versuchte, einen von den Leckerbissen zu erwischen, wurde der Drache wütend und biß es ordentlich. Er war wirklich ein böser kleiner Drache.
Aber wir mochten ihn. Wir kratzten ihm oft den Rücken, und es sah jedesmal aus, als ob er das gern hätte. Seine Augen glühten rot vor Glück, und er stand
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